Straßenzeitung mit Biss
Deutschlands ältestes Obdachlosen-Magazin feiert in München sein 20-jähriges Bestehen
Wenn Hartmut »Jacky« Jacobs morgens gegen halb elf seinen Standplatz bezieht, ist er sofort in seinem Element. Ein »Guten Morgen« hier, ein »Wie geht’s« da - Jacobs achtet darauf, dass ihn kein Passant übersieht. Das Zwischengeschoss der S-Bahn am Rosenheimer Platz in München ist Jacobs zweites Wohnzimmer, wie er sagt. Selbst wenn dort sein Arbeitsplatz ist. Jacobs ist mit ganzer Seele Verkäufer - von einem ganz besonderen Produkt: Seit 15 Jahren verkauft der 56-Jährige die Straßenzeitung »Biss«. An diesem Donnerstag feiert das älteste Obdachlosen-Magazin Deutschlands sein 20-jähriges Bestehen. Es hat nicht nur Hartmut Jacobs eine neue Perspektive eröffnet.
»Etwas chaotische Strukturen«
Im Jahr 1991 kam die Idee einer Straßenzeitung bei einer Tagung in Tutzing zum ersten Mal auf. Eine Gruppe aus Sozialarbeitern, Journalisten und Kirchenleuten wollte eine Zeitung gründen, die Obdachlosen Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht. Zwei Jahre später erschien die erste »Biss«, kurz für »Bürger in sozialen Schwierigkeiten«. »Die Zeitung war schon damals gut«, sagt die heutige Geschäftsführerin Hildegard Denninger, eine resolute 65-Jährige mit grauen Haaren und flotter orangefarbener Brille. Nur die Strukturen seien etwas chaotisch gewesen.
Denninger ist seit 1994 bei »Biss«. Armut und soziale Ungleichheit gehörten schon damals zu den Schwerpunkten der Zeitschrift, die »den Fokus auf Themen legt, die sonst tabu sind«, wie die Münchner Sozialreferentin Brigitte Meier anerkennend sagt. Für die Geschäftsführerin Hildegard Denninger war das Magazin immer nur Mittel zum Zweck. Deshalb wird es mit wenig finanziellen Mitteln von freien Redakteuren produziert. Nur etwa 30 bis 40 Prozent der Leser kaufen das Heft wegen des Inhalts, ergab eine Reichweitenanalyse, die für »Biss« vor kurzem gesponsert wurde. Etwa die Hälfte wollen vor allem den Verkäufern etwas Gutes tun.
101 Menschen verkaufen »Biss«, 41 davon mit Festanstellung. Anders als die freien Verkäufer, die von den 2,20 Euro Verkaufspreis die Hälfte behalten dürfen, haben Festangestellte fixe Verkaufsmengen zwischen 400 und 1200 Exemplaren pro Monat und ein festes Gehalt, das durch Verkaufserlöse und Spenden-Patenschaften finanziert wird. Vor allem die festen Stellen ermöglichten »Biss«-Mitarbeitern den Schritt zurück ins gesellschaftliche Leben, sagt Denninger: »Das setzt Kräfte frei, das glaubt niemand.«
30 Mal in Deutschland
Auch Hartmut Jacobs ging es so. »Wenn «Biss» nicht wäre, dann wäre ich schon 1,80 Meter tiefer unter der Erde«, sagt er. Früher hat der gelernte Einzelhandelskaufmann als Maler und Lackierer gearbeitet. Er war findig, kam gut über die Runden. Bis er 30 Jahre alt wurde - und krank. Ein Defekt im Kleinhirn. Jacobs wurde arbeitslos, begann zu trinken und Drogen zu nehmen. Ein Freund riet ihm, es bei »Biss« zu versuchen. Jacobs ging in die Redaktion, kaufte sich vierzig Exemplare und zog los. Er war sofort mit Eifer dabei. Plötzlich hatte er wieder eine Aufgabe und genug Energie, um clean zu werden.
Obdachlos war Jacobs nie, doch das sind inzwischen die wenigsten Verkäufer. Voraussetzung für die Verkaufserlaubnis ist Bedürftigkeit. Ähnliche Projekte wie »Biss« gibt es etwa 30 Mal in Deutschland - in Bayern den »Donaustrudel« in Regensburg, »Straßenkreuzer« in Nürnberg oder »Riss« in Augsburg. »Biss« gehört zu den größten. Das Magazin habe für München viel geleistet, sagt die Sozialreferentin Meier. Doch das älteste Straßenzeitungsprojekt hat Grenzen: »Es kann die professionelle Arbeit, das Netz der Berater und Unterstützer nicht ersetzen.« Für Hartmut Jacobs ist das Projekt aufgegangen. Seine Stammkunden kennen ihn, machen kurz Halt an seinem Platz, plaudern mit ihm. Blöd sei ihm schon lange niemand mehr gekommen. Nur neulich dieser alte Herr, der Jacobs anmaulte: »Gib mir ein Heft, ich hab’ heute meinen sozialen Tag.« Solche Aussagen mag Jacobs gar nicht, Almosen hat er nicht nötig. Er hat eine richtige Arbeit. dpa/nd
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