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Das Paradox der Depression

Warum Stadtmenschen Psychotherapeuten brauchen

  • Dr. Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 5 Min.

Freud schreibt in »Das Unbehagen in der Kultur«, dass die Arbeit für die seelische Gesundheit ebenso wichtig ist wie die Liebe. Sie werde leider nur weniger geschätzt, setzt er ironisch hinzu. Wenn heute Depressionen die häufigste Ursache von Berufsunfähigkeit geworden sind (früher waren das rheumatische Beschwerden und Herz-Kreislauf-Probleme), spiegelt das auch den Wandel von der körperlichen Arbeit zum Dienstleistungsberuf, der die Gelenke schont, aber die Psyche überfordert.

Eine Erzieherin hat sich mit großer Anstrengung aus einer dörflichen Situation als sexuell missbrauchtes Kind eines Alkoholikers und einer überlasteten, das Mädchen entwertenden Mutter herausgekämpft. Die Arbeit mit den Kindern ist ihr immens wichtig. Zwei Versuche zu einer Liebesbeziehung mit Frauen scheitern. Vor Männern hat sie zu viel Angst. Sie kann keine Kränkungen ertragen, zieht sich dann zurück, zweifelt an sich, fühlt sich schuldig.

Dann greift die Kränkung nach ihrem Arbeitsplatz. Bisher hat sie die Tätigkeit zwar sehr gefordert, aber die Anerkennung für Eifer und Pflichterfüllung festigte ihr Selbstvertrauen. Jetzt fühlt sie sich von einer Vorgesetzten, die sie heimlich verehrt, abgewiesen und gemobbt. Sie kann an nichts anderes mehr denken als an ihre Liebesenttäuschung, aber auch mit niemandem darüber sprechen. Schließlich ist sie die Pädagogin, die Fachfrau, sie muss doch mit solchen Problem fertig werden! Sie wird unaufmerksam, schreit Kinder an, die sich bei den Eltern beklagen.

Zur Rede gestellt und abgemahnt, macht sie einen Suizidversuch. Sie überlebt dank der Aufmerksamkeit einer Mitbewohnerin und kommt in die Psychiatrie. Jetzt ist ihr Selbstgefühl so am Boden, dass sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen kann, sich noch mal den Kränkungsgefahren an ihrem Arbeitsplatz auszusetzen. Als Erzieherin muss sie doch gut gelaunt und ein echtes Vorbild sein!

Sie wird die nächsten zwanzig Jahr alle zwei Jahre erneut krank geschrieben und mit antidepressiven Medikamenten versorgt. Sie will nicht über ihre Probleme reden. Sie ist doch »richtig« krank! Keiner der Ärzte nimmt sich die Zeit, die Ursachen ihrer Depression herauszufinden und durch die Klagen über ihre Müdigkeit und Unfähigkeit, sich aufzuraffen, hindurch zu ihren Ängsten und Schuldgefühlen vorzudringen. Eine Psychotherapie beginnt sie erst, als sie nicht mehr krank geschrieben wird, sondern berentet ist.

Ich denke angesichts solcher Lebensgeschichten oft darüber nach, wie sehr der modernen Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft die entlastende, seelisch stabilisierende Funktion der handwerklichen Tätigkeit fehlt. Auch mein bäuerlicher Großvater hatte eine sehr schwere Kindheit. Sein Vater vertrank den Hof, er musste sich als Knecht verdingen und hat körperlich gearbeitet, so lange er lebte.

Sein Pferdeverstand wurde noch von manchen Nachbarn gerühmt, als er schon gestorben war; ich habe ihn immer nur als Kutscher eines Kuhgespanns kennen gelernt und begriff erst viel später, wie gut er mit den Zugtieren umgehen konnte. Als Kind war mir das ganz selbstverständlich; auch mir gehorchte die abgerichtete Leitkuh, und ich war stolz, als der Opa sagte, der Wolfi hätte keine Angst vor den Tieren.

Der kleine Hof, den er sich erarbeitet hatte, bot schon seinen Söhnen nicht genügend Auskommen. Aber er sorgte dafür, dass meine väterlichen Großeltern bis ins hohe Alter tätig blieben und heftige seelische Belastungen gut verarbeiten konnten. Gründe für Depressionen gab es genug: Keiner der Söhne wollte Bauer werden und das Erbe antreten. Der ältere, der nicht studieren durfte, wurde Kellner, Wirt, Alkoholiker, Chemiearbeiter. Die Oma hat sich darüber sehr aufgeregt.

Der jüngere Sohn, mein Vater, wurde Jurist und starb noch viel früher, 30 Jahre alt, im Krieg.

Ich bin heute sehr dankbar für die Teile meiner Kindheit dort, auf einem bäuerlichen Betrieb ohne Fremdenergie. Es gab keinen Traktor, das Getreide wurde noch mit der Sense gemäht und in Mandeln getrocknet. Das sind Künste, die wir gegenwärtig im Landwirtschaftsmuseum sehen. Stadtluft macht frei, aber sie zerreißt auch Bindungen und raubt Geborgenheit. In den bäuerlichen und handwerklichen Betrieben waren vor sechzig Jahren Körperkraft, Geschicklichkeit und Ausdauer noch die Qualitäten, die dem tätigen Menschen Selbstgefühl spendeten und Lebensunterhalt sicherten.

Die Großeltern in Niederbayern sind zeitlebens nicht gereist. Ihr Leben spielte sich in Haus, Hof und Garten ab; sie hatten Kühe, Schweine und Hühner, es gab immer etwas zu tun. Eine überschaubare, sichere Welt, welche die amerikanischen Soldaten 1945 nach zwei Blicken für absolut ungeeignet hielten, dort Quartier zu nehmen. Kein Badezimmer, Plumpsklo hinter dem Schuppen!

Von Psychotherapie haben meine Großeltern zeitlebens nichts gehört, und es wäre mir sicher nicht leicht gefallen, ihnen zu erklären, was unsereiner so macht.

Ein Lehrer, eine Erzieherin, ein Krankenpflegerin, eine Ärztin können mit einer Depression nicht arbeiten. Sie müssen beziehungsfähig, aufmerksam, »gut drauf« sein. Wer Unkraut jätet, die Kühe melkt oder den Pflug repariert, hat auch zu tun, wenn er depressiv ist. Die Tätigkeit hilft ihm aus seiner Depression heraus. Wir Stadtmenschen aber brauchen Psychotherapeuten, um das Paradox zu ertragen, dass wir erst tätig werden können, wenn die Depression weg ist, und die Depression nur weggeht, wenn wir tätig sind.

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