Drinnen oder draußen
Ein prominenter Vertreter der bundesdeutschen Behindertenbewegung will künftig im Europaparlament arbeiten
Ilja Seifert ist auf dem Weg zum Bundestag, der sich an diesem Mittwoch konstituiert. Micha - sein Sohn und sein Assistent - schiebt ihn im Rollstuhl den Schiffbauerdamm entlang. Sie haben es nicht weit von der Wohnung zum Reichstag. Der Weg ist gut eingeübt, barrierefrei ist er nicht. Ein paar Stufen an den Straßen müssen bewältigt werden. Doch die sind nichts im Vergleich zu den Barrieren des Lebens, die der 62-jährige Abgeordnete der Linkspartei schon überwunden hat, als Mensch, als Rollstuhlfahrer und als Linker. Wenn er den Reichstag an diesem Abend wieder verlässt, ist er kein Bundestagsmitglied mehr. Er hatte keinen Plan B für diesen Lebensabschnitt, sagt Seifert, aber es klingt nicht larmoyant, es ist einfach eine Feststellung. Sein Listenplatz im Land Sachsen lag zu weit hinten, um in den neuen Bundestag gewählt zu werden. Nun ist er draußen, 21 andere seiner Fraktionskollegen ebenfalls. Der Mittwoch ist sein Abschiedstag. Eigentlich wollte er gar nicht teilnehmen an dieser Veranstaltung, die ihn nicht mehr betrifft. Dann hat er es sich doch überlegt.
Promoviert und provoziert
Mit 17 sprang der Mann, dessen Name heute fast als Synonym für die Behindertenbewegung der Bundesrepublik gelten kann, im Urlaub kopfüber in einen Fluss und landete auf einer Wurzel. Als man ihn herausholte, war er so schwer verletzt, dass er nie wieder laufen konnte. Da musst du dich entscheiden, sagt er. Ob du dich verkriechen willst, oder ob du rausgehst. Er hat sich bekanntlich dafür entschieden rauszugehen. Hat das Abitur gemacht und ein Studium absolviert. Zu einer Zeit, als Barrierefreiheit noch nicht zum Sprachgebrauch gehörte und Menschen mit Handicap kaum auf der Straße waren, sondern für gewöhnlich in Sondereinrichtungen gesteckt wurden. Ein Student im Rollstuhl an der Berliner Humboldt-Universität war eine Ausnahme, zumal er vom Vater begleitet wurde, denn wie sonst sollte der künftige Germanist, der in allen Lebenslagen Unterstützung benötigt, das schaffen? Horst Seifert, der Schriftsetzer von der Cottbuser Bezirkszeitung »Lausitzer Rundschau« machte bei der Gelegenheit auch gleich sein Diplom. Wenn er nun schon mal da war ... Wie so etwas in der DDR-Bürokratie gelingen konnte und wie es Iljas Mutter Elvira als Journalistin schaffte, sich und ihre zwei Studenten durchs Leben zu bringen, ist eine lange Geschichte, für die hier leider der Platz fehlt. Jedenfalls ist Ilja Seifert 1974 Diplomgermanist geworden. Hat später an der Akademie der Wissenschaften Karriere gemacht, geheiratet, Kinder bekommen, Erfolg gehabt, sein Selbstbewusstsein gestärkt. 1980 hat er promoviert und immer mal wieder provoziert - so schlug er sich selbst für die Volkskammer vor. Das war in der Regel der sicherste Weg, niemals dort anzukommen.
Kampf statt Rückzug
Hallo, Herr Seifert, sagt Rita Süssmuth an der Bundestagsgarderobe und reicht ihrem Exkollegen die Hand. Nach 16 Parlamentsjahren kennen mich alle, freut sich Seifert. Natürlich ist er stolz, wenn ihn Lammert, Gauck, Süssmuth, Köhler oder Thierse begrüßen, warum auch nicht? Aber ebenso angenehm findet er das freundliche Lächeln von Uwe Ahlhorn, einem Verwaltungsangestellten des Bundestags, der zur konstituierenden Sitzung vor dem Eingang zur Besuchertribüne über dem Plenarsaal steht und mehr zu tun hat als sonst. Neue Leute, neue Fragen. Ahlhorn ist contergangeschädigt und hat sehr genau verfolgt, was der behinderten- und tourismuspolitische Sprecher der LINKEN getan hat, um für ihn und andere Betroffene bessere Lebensbedingungen zu erreichen. Sehr viel sei das gewesen, findet Ahlhorn. Es gab mehr Geld für Hilfsmittel und die Renten wurden erhöht. Vor allem hätte dieser Ausschuss fraktionsübergreifend gearbeitet. Das habe ihm sehr gefallen. Ilja Seifert sitzt heute sogar ganz und gar fraktionsübergreifend. Nämlich auf der Besuchertribüne. Von dort schaut er auf seine LINKEN hinab, die elf Mandate weniger haben als im vorherigen Bundestag, und so manchen altgedienten Fachpolitiker wie ihn mit dem Argument auf die Reise aus dem Reichstag schickten, sie seien schließlich versorgt und jetzt müssten mal andere ran. Keine sehr politische Strategie, findet er. Unbedingt notiert will er wissen, dass er nichts für sich mache. Barrierefreiheit sichere die Teilhabe aller Menschen am Leben und sei auch gut für Kinder, ältere Leute oder Kranke. Selbst im Bundestag gibt es dafür Beispiele. In der imposanten Glaskuppel beispielsweise sollte nach Meinung der Architekten eine Treppe herumführen, aber zum Glück saß vor fünfzehn Jahren ein Mann namens Seifert in der Baukommission und dem war sofort klar, dass es für Tausende von Menschen, darunter für ihn selbst, niemals möglich wäre, diese Treppe zu erklimmen und das mit jedem Zentimeter Höhe größer werdende Häusermeer zu betrachten. Sofort ging seine Hand hoch. Wir wollen da auch hin, erklärte Seifert, dem da schon der Querulant anhaftete. Und er hat es geschafft. Aus der Treppe wurde ein sanft ansteigender Rundweg mit kleinen Pausenebenen ohne Steigung, auf denen ein Besucher im Rollstuhl entspannt verschnaufen kann. Kinder kann man einfach rennen lassen. Eine schöne Geschichte mit einem Happy End. Das läuft aber nicht immer so. Mitunter wird die Pflicht zur Barrierefreiheit auch ignoriert wie bei der Schlosssanierung im Berliner Tierpark Friedrichsfelde. Müsst ihr denn überall rein, habe es geheißen, als sich Behinderte zum Schlossfest protestierend draußen einfanden. Seifert findet: Ja, müssen wir. Das ist ein Menschenrecht.
Mit der Wende kam für Ilja Seifert doch noch die Chance, in die Volkskammer hineinzurollen. Er wurde gewählt und gründete darüber hinaus im April 1990 den ersten und einzigen Behindertenverband der DDR. Selbstvertretung der Behinderten war immer eines seiner wichtigsten Ziele gewesen. Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl von der CDU übernahm die Schirmherrschaft und hält sie bis heute. Das war dem engagierten Gründer mit dem Vorsitz nicht vergönnt. Zweimal hatte er sich in der DDR mit dem Staatssicherheitsdienst eingelassen, in seinen Augen lächerlich unwichtige Berichte geschrieben und in grenzenloser Naivität und Selbstüberschätzung Bekannte als Mitarbeiter für den Dienst empfohlen. Nie habe er jemanden denunziert. Alles kommt raus, als er bereits zwei Jahre mit der PDS im Bonner Bundestag sitzt. Doch er denkt nicht daran, einfach abzuhauen. Weder aus Bonn, noch aus dem Behindertenverband. Lediglich den Vorsitz legt er nieder, politisch macht er weiter. Bleibt Abgeordneter, obwohl ihm einige Kollegen den Rückzug nahelegen. Doch da ist es Seifert schon viel zu lange gewöhnt, nicht Everybody's Darling sein zu können. Wer etwas für Menschen mit Handicap erreichen möchte, muss kämpfen. Zur Not auch in Zittau, wo die Gegend politisch so schwarz ist, dass man tagsüber mit Licht fahren muss, scherzt Seifert. Er hat sich mit Leuten angelegt und immer wieder nachgefragt, warum dieses nicht geht und jenes nicht möglich ist - egal, ob es sich um den netten Kollegen von nebenan oder den gefürchteten Finanzminister Wolfgang Schäuble handelte, der ihm im Übrigen immer mit Respekt begegnet sei. Wie kommt man damit klar, dass der eine oder andere die Augen verdreht, wenn man sich zu Wort meldet oder wenn man sich wie beim 70. Geburtstag von Sabine Bergmann-Pohl plötzlich neben dem erzkonservativen CDUler Eberhard Diepgen findet, der einem am liebsten den Rücken zudrehen würde? Ich?, fragt Seifert selbstbewusst zurück. Wieso ich? Damit müssen die anderen klar kommen.
Von 1994 bis 1998 war Seifert kein Abgeordneter, er gründete ein Sachverständigenbüro für barrierefreies Leben und hangelte sich mit Beratertätigkeiten und Lehraufträgen über die Jahre. Rückblickend war auch das eine wichtige Erfahrung, glaubt er. Die Gefahr abzuheben, sei groß im Bundestag. Guten Tag hier, einen schönen Feierabend da, wie geht es, Herr Abgeordneter? Das sollte man nicht mit dem Leben verwechseln, meint Seifert. Er habe erfahren, wie einen Leute von heute auf morgen fallen lassen. Man werde hier vor allem mit Aufmerksamkeit bezahlt. Vielleicht wird sich eines seiner künftigen Gedichte einmal mit diesem Thema befassen, Seifert ist auch Lyriker. In seiner Doktorarbeit hatte er sich mit dem Thema befasst. In diesem Jahr erschien sein Gedichtband »... und auch die Erotik«.
Beim Parlamentsempfang im Anschluss an die erste Sitzung des neuen Bundestages macht Norbert Lammert, der alte und neue Präsident, Ilja Seifert mit seiner Frau bekannt. Es wäre schön gewesen, wenn Sie wieder dabei gewesen wären, sagt er zu Ilja Seifert. Er hat sich ganz selbstverständlich neben den Rollstuhlfahrer auf eine Lederbank gesetzt, so dass dieser nicht unentwegt den Kopf zu seinem Gesprächspartner nach oben recken muss. Gerade hat er in seiner Rede für eine starke Opposition geworben. Seifert und er schätzen einander und reichen sich noch einmal die Hand.
Es gibt einen Plan B
Seiferts einstige Mitarbeiter André Nowak und Kathrin Pohl werden künftig für André Hahn arbeiten, dessen Name schon am Büro angebracht wurde. Nowak freut sich, aber ein bisschen Wehmut ist auch dabei. Mit Ilja habe er vermutlich in den letzten Jahren mehr Zeit verbracht als mit seiner Ehefrau, witzelt er. Noch ein kurzes Gespräch mit Rentenexpertin Martina Bunge, die ebenfalls das Parlament verlässt, die erfreuliche Mitteilung von Katrin Werner, sie wolle sich für Behindertenpolitik in der Fraktion der Linkspartei stark machen, und ein letztes Scharmützel mit Dieter Dehm über Ostler und Westler und den Handschlag zur Begrüßung, den Seiferts ehemaliger Fraktionskollege noch immer für eine Ostsitte hält. Auf die Frage nach seinen Zukunftsplänen sagt Ilja Seifert, dass er im nächsten Jahr für die Wahlen zum europäischen Parlament kandidieren will. Es gibt also doch einen Plan B.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.