Nie aufgeben

Der Antifaschist und Kommunist Hannes Bienert hat den Wattenscheider Opfern der Shoa ein Denkmal gesetzt

  • Bruno Neurath-Wilson
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Jackett, das er an diesem Abend in der Bochumer Synagoge trug, war so strahlend rot wie seine Überzeugung. Eine Fliege hatte er auch umgebunden. »Ich glaube, es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Fliege getragen habe«, erzählte er später. So war es kein Wunder, dass die WAZ am nächsten Tag schrieb, er habe »ein wenig wie ein Fremdkörper« gewirkt »zwischen all den Honoratioren in eher gedeckter Festgarderobe«.

Am Abend des 20. Oktober 2013 ist er von der Jüdischen Gemeinde für seinen »unermüdlichen Kampf gegen das Vergessen« mit der Dr.-Otto-Ruer-Ehrenmedaille geehrt worden. Dr. Otto Ruer war von 1925 bis 1933 Oberbürgermeister von Bochum. Ein Mann jüdischen Glaubens - die Nazis vertrieben ihn mit einer Diffamierungskampagne aus dem Amt. Er nahm sich das Leben.

Äußerst selten nur erhalten Personen aus der nichtjüdischen Öffentlichkeit diese Auszeichnung. Der Bochumer SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer sprach in seiner Laudatio über das Leben des zu Ehrenden - des 85-jährigen Kommunisten und Friedensaktivisten Hannes Bienert.

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Hannes Bienert ist einer von jenen Menschen, die in Zeiten von Krieg und Umbruch gelebt, dadurch ihre »Prägungen« erfahren haben und gerne davon erzählen. Ein präziser Erzähler zudem, dessen Worte unkorrigiert in den Satz gehen könnten. Man merkt ihm an, dass er oft in der Öffentlichkeit das Wort ergriffen hat: In den 50er und 60er Jahren als aktiver Funktionär der KPD, zuständig für die Kommunalpolitik.

Raumfüllend kann seine Stimme sein, wenn die Witterung ihm wohl gesonnen ist: Eine Staublunge hat er sich bei der Arbeit unter Tage zugezogen, und auch sonst waren seine aktiven Jahre im Ruhrgebiet und die Jahre davor hart genug.

Nach Wattenscheid (heute ein Stadtteil von Bochum) kam Hannes Bienert, der 1928 im schlesischen Beuthen geboren wurde, im Jahre 1947. In den dortigen Zechen arbeitete er unter Tage. Es folgten mehrere Umschulungen - zum Baukranführer, zum Fernmeldemonteur, zum Führer einer Werkslokomotive -, aber auch Zeiten von Arbeitslosigkeit, weil er in Unternehmen ohne Betriebsrat nicht arbeiten mochte.

Sein Weg nach Wattenscheid war »abenteuerlich« gewesen: Als die Rote Armee schon in Ostpreußen stand, hatte man ihn noch mit seiner gesamten Schulklasse eingezogen. Verheizt sollten sie werden: Mit der Panzerfaust auf dem Fahrrad »dem Russen« entgegenfahren - so lautete ihr Befehl. Befehlsverweigerung war für den jungen Hannes Bienert, der vorher schon erleben musste, wie der Kommandant Klassenkameraden in die Beine geschossen hatte, wenn sie aus Angst um ihr Leben vor den Bombardements flüchten wollten, die einzig denkbare Konsequenz. In Berlin schmiss er die Panzerfaust weg und versteckte sich zusammen mit zwei Freunden bei einer Tante. Von da an war der Schüler Deserteur, sein Leben in Gefahr und Untertauchen die Überlebensstrategie. Da er zu seiner Mutter, die mit seinen Geschwistern in Österreich gelandet war, Kontakt halten konnte, schlug er sich zu ihnen durch, um den Versuch zu wagen, mit ihnen vereint zurück in die schlesische Heimat zu gelangen. Unterwegs starb seine kleine Schwester an Unterernährung.

Wer Hannes Bienert erzählen hört, wie ein polnischer Priester dem toten deutschen Baby die Beerdigung verweigert, wie er, der 17-jährige Hannes, der Mutter das Baby aus der Hand nimmt und einer anderen Leiche in der Leichenhalle unterschiebt, »damit das Kind wenigstens unter die Erde kam«, oder wie er Leichen aus einem Flüchtlingswaggon holt, um sich damit einen Teller Milchsuppe zu verdienen, der fühlt, wie diese Erlebnisse aus dem Jugendlichen einen entschiedenen Anti-Militaristen gemacht haben. Der versteht, dass er, der zunächst mit der Sozialdemokratie sympathisierte, deren zögerliche Haltung in der Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands er nicht teilte, sich den Kommunisten zuwendete. Ein Besuch im KZ Buchenwald wurde ein weiteres prägendes Erlebnis und der »Schwur von Buchenwald« Leitmotiv für sein ganzes späteres Leben.

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Aber nicht dafür ist Hannes Bienert von der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen geehrt worden. Geehrt wurde er für eine wohl beispiellose Konsequenz in der antifaschistischen Erinnerungs- und Gedenkkultur, in deren Mittelpunkt für ihn die Erinnerung an den Massenmord an den Juden steht.

Von den ersten Ostermärschen der 60er Jahre an gehörte Hannes Bienert zu deren führenden Köpfen im Ruhrgebiet. Zusammen mit seinem Freund Jupp Knoop organisierte er den Empfang des Marsches in Wattenscheid. Über all die Jahre war es klar: Wenn der Ostermarsch in Wattenscheid ankommt, gibt es an der Friedenskirche einen Teller Erbsensuppe für die Marschierer. Den Schlüssel zur Friedenskirche hatte Hannes Bienert, der überzeugte Atheist. Dieser Umstand zeugt von seiner »Kernkompetenz«, wie man heute sagen würde: Über alle weltanschaulichen und parteipolitischen Grenzen hinweg hat er sich durch die Friedensarbeit Vertrauen und Sympathie erworben.

In Wattenscheid erinnert eine Bronzetafel in der Passage zum Nivellesplatz an die Zerstörung der dortigen Synagoge in der Pogromnacht zum 9. November 1938. Eine schlichte Tafel, in einem eher dunklen Durchgang. An dieser Tafel veranstaltete die von Hannes Bienert vor über zwei Jahrzehnten gegründete Wattenscheider Antifa über viele Jahre hindurch eine Gedenkfeier. Engagierte Lehrer und Lehrerinnen in Wattenscheid machten das Thema zum Unterrichtsgegenstand - nicht selten waren ganze Schulklassen unter den Kundgebungsteilnehmern.

Irgendwann aber war für Hannes Bienert klar: Diese Tafel - das reicht nicht. Er wollte, dass der von den Nazis vertriebenen und ermordeten Wattenscheider Juden namentlich und persönlich, individuell für jedes Schicksal, gedacht werden kann. Und: Das geht nur mit einem Mahnmal!

In Zeiten knapper öffentlicher Kassen aber war in Bochum nicht auf eine Finanzierung aus kommunalen Mitteln zu hoffen. Also machte Hannes Bienert sich auf, um auf privater Basis für die Finanzierung eines Mahnmals zu sorgen.

Tochter Nadine brachte von den Falken die Buttonprägemaschine, im Wohnzimmer entstand die Kampagnenzentrale. Freunde, Gewerkschaften, Privat- und Geschäftsleute ging Hannes Bienert um Spenden an. Anfangs wohl auch belächelt von einigen, aber der Erlös aus dem Verkauf der Buttons brachte mehr und mehr Geld zusammen. »79-jähriger Antifaschist geht auch Klinken putzen«, titelte die WAZ 2007 anerkennend. Dann eine Großspende über 1000 Euro von der GEW, weitere 700 Euro von der Lehrerschaft einer Realschule. Der persönliche Kontakt zum Seniorchef von Glas Nowak, einem Glasunternehmen in Wattenscheid, brachte den Durchbruch: Dessen Zusage über 3000 Euro sicherte die Finanzierung endgültig.

Dr. Rosenkranz, Mitglied der Jüdischen Gemeinde, sorgte für den Entwurf, und Nowak senior ließ es sich nicht nehmen, bei der Verankerung des Mahnmals in städtischem Grund und Boden im November 2010 selbst Hand an zu legen. Die drei gläsernen Stelen, über zwei Meter hoch, in der Form angelehnt an jüdische Grabsteine, tragen alle Namen der 87 Opfer der Shoah in Wattenscheid. Im Bochumer Stadtarchiv fand Hannes Bienert das einzige erhaltene Foto vom Betraum der ehemaligen Wattenscheider Synagoge. Mannshoch wurde das Bild auf die mittlere der Stelen aufgebracht - mit einer Maschine der Firma Nowak. Immer wieder erzählt Hannes Bienert, dass es von dieser (in Israel hergestellten) Maschine weltweit nur ein paar Stück gibt, und eine davon steht ausgerechnet in Wattenscheid.

Ein Dankschreiben der israelischen Botschaft bezeugt, dass seine Initiative auch über Bochum hinaus registriert worden ist. Dass so einer Feinde hat, ist vorstellbar. Aber dass es für solches Engagement in deutschen Landen eine Vorstrafe geben kann, war undenkbar. Die Fakten: Bis vor einigen Jahren war Wattenscheid Sitz der NPD-Landeszentrale. Den Zorn der rechten Szene zog der Antifaschist Bienert zwangsläufig auf sich. »Bienert - du bist tot« stand 1992 eines Tages an seiner Hauswand, daneben SS-Runen. Das war nicht der einzige Angriff aus dieser Ecke, aber damit war zu rechnen.

Womit nicht zu rechnen war, dass er eines Tages vor Gericht stehen würde. 2006 waren nur fünf Personen zur Kranzniederlegung an der Bronzetafel zusammengekommen. Fünf Personen - das ist eine meldepflichtige Versammlung, und das war Hannes Bienert entgangen. Das Gericht kannte keine Gnade und verurteilte ihn rechtskräftig zu 15 Tagessätzen à zehn Euro. Gegen das Urteil war keine Berufung möglich. Und damit ist Hannes Bienert in aller Form vorbestraft!

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Das jüngste der 87 Wattenscheider Shoahopfer war die 15-jährige Betti Hartmann. Sie wurde in Auschwitz ermordet. Der Platz vor dem Wattenscheider Rathaus soll ihren Namen tragen - das wollte Hannes Bienert noch erreichen. Entgegen der Empfehlung der Verwaltung folgte die Bezirksvertretung im April 2013 seinem Antrag.

Aufgeben, zurückstecken im Kampf gegen das Vergessen, das kommt für Hannes Bienert nicht in Frage. Und genau dafür wurde er von der Jüdischen Gemeinde geehrt.

Derzeit, einige Monate vor seinem 86. Geburtstag, arbeitet Hannes Bienert am Antifaschistischen Stadtplan von Wattenscheid ...

Unser Autor, Sohn eines Neuengamme- und Buchenwald-Häftlings, hat über das Leben von Hannes Bienert eine dokumentarische Videocollage erstellt. Der Erlös aus dem Verkauf der geplanten CD wird der Instandhaltung der Stelen zugute kommen. komm-konzept.de/bienert.html

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