Sonntags Anarchie

Film und Gespräch zu Hippies in der DDR

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 3 Min.
Wenn die Jugend vorbeigeht, verblassen die Träume. Die Sehnsucht bleibt. Wie gut fühlt es sich an, gemeinsam in Fotoalben zu blättern, in Erinnerungen zu schwelgen, abzutauchen in die Zeit, die nicht wiederkehren will ... Dutzende Menschen, das Gros zwischen 40 und 60, drängten am Mittwochabend gegen das Seitentor zum Deutschen Historischen Museum Berlin. Im Zeughauskino lief einmalig Lutz Rentners Dokumentarfilm »Wittstock statt Woodstock - Hippies in der DDR«. Doch die Tür blieb zu, der Saal war voll. Auch für Presseleute kein Einlass. Nicht mal der Radiomann vom RBB (der den Film produziert hat) und die Leute vom Rundfunkarchiv (das Originalaufnahmen zur Verfügung gestellt hat) kamen rein. Brandschutzbestimmungen - da kann man nichts machen. Als Trost verteilten Mitarbeiter der »Stiftung Aufarbeitung« Bücher zur Zeitgeschichte. Und versprachen, die Vorführung zu wiederholen. Rund 100 Menschen nahmen das Angebot an - und kamen nach zwei durchfrorenen Stunden wieder. Wenn das eigene Leben zur Geschichte wird, will man wenigstens Zeuge sein. Anders ist der große Andrang zu dieser kleinen Veranstaltung kaum zu erklären. Die langhaarigen Kuttenträger, die da in wacklig schwarz-weißen Privat- und Polizeiaufnahmen blutjung über die Leinwand rockten, saßen - 30 Jahre älter - in gepflegter Alternativbekleidung nebeneinander im Kinosaal. Und erkannten sich tatsächlich wieder, fühlten noch einmal das große Glück des Drangs nach Freiheit. Dieses Drangs, der so plötzlich verpuffte, als 1989 alles möglich zu werden schien. Als Asis und Gammler wurden sie von »Normalbürgern« beschimpft. Blueser, Tramper und Kunden nannten sie sich selbst, die Blumenkinder aus Gera, Zwickau oder Wittstock, die von den frühen Siebzigern bis in die späten Achtziger träumend eine Welt erobern wollten, die ihnen realiter verschlossen war. Wochentags bändigten sie ihre Haarpracht mit Spangen und Zuckerwasser, drückten die Schul- oder Werkbank. Am Wochenende aber war Anarchie. Dann ließ man die Mähne über den Parka wallen, Bier und Schnaps in Strömen fließen, tauschte sich über die neusten Schallplattenschätze aus, die man erobert hatte, und machte sich per Anhalter auf durch die Republik. 40 000 Kilometer sei er allein im Jahre 1972 getrampt, erinnert sich einer der »Zeitzeugen« im Film. Eine ganze Erdumrundung - in den Grenzen der DDR. Ziel waren hoffnungslos überfüllte »Tanzveranstaltungen« in Dorfsälen, wilde Besäufnisse im Freien oder ein Volksfest wie der Karneval im Thüringer Wasungen. Dort mischten sich die »Kunden« unters Volk - und verstörten die Bürger mit ihrem unflätigen Gebahren. Klar, dass dem Staat solche Jugendliche ein Dorn im Auge waren. Festnahmen und Verhöre gehörten zum Alltag der Blueser wie exzessive Musik, Saufen und Sex. Aber die Stasi konnte »nur behindern, nicht verhindern«, resümiert der heutige Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk im anschließenden Podiumsgespräch. Viele der DDR-Bands, deren westlich geprägter Musik die Kuttenträger frönten, wurden vom Staat sogar gefördert. Dass er unter ständiger Beobachtung stand, so Stefan Trepte (Musiker bei electra, Lift, Reform), habe er »nicht mal bemerkt«. Deshalb sei er »denen« nicht böse. »Ich habe nicht darunter leiden müssen.« Dass es anderen schlechter erging, ist inzwischen bekannt. »Sie wurden nicht selten über Jahre hinweg observiert, in ihrem Wirkungsfeld eingeschränkt und durch subtilen Terror schleichend gelähmt - oder wie es die Stasi nannte: "zersetzt"«, schreibt der Musikwissenschaftler Michael Rauhut in einem Essay zum Thema. Keine vordergründige politische Oppositionsbewegung, war diese Gegenkultur doch ein Politikum. Die als verlogen empfundene »sozialistische« Gesellschaft wurde angegriffen, indem man sich ihr entzog. Asyl bot die Kirche: Zu den streng observierten »Bluesmessen«, die ihre Blüte in den frühen Achzigern erlebten, kamen bis zu 7000 Menschen. Doch irgendwann war auch die letzte dieser »Messen« gelesen. Was bleibt, ist die Sehnsucht. Diese Sehnsucht nach Weite und Freiheit und Liebe und Rausch. Und die Musik, die dieses Sehnen sekundenlang stillen kann.

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