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USA starteten Offensive gegen Kandahar
Hunderte Tote bei Niederschlagung von Taleban-Gefangenenrevolte in Mazar-e Scharif
»Gestern mein Feind, heute mein Bruder«, sagt lachend ein General der Nordallianz, schlägt einem Taleban mit schwarzem Turban auf die Schulter und beschreibt damit, wie sich die einstigen Gegner während der vergangenen beiden Tage mancherorts in Mitstreiter verwandelten. Ein Händedruck, Umarmungen und schon waren einheimische Taleban in die Reihen der Nordallianz aufgenommen, drehten ihre Waffen um und beteiligten sich am Sturm auf Kunduz, wo noch immer ausländische Taleban Widerstand leisteten.
Dann kam die Kapitulation, und mehr als 700 Araber, Pakistaner und Tschetschenen zogen gemäß einer Vereinbarung mit General Rashid Dostum von Kunduz nach Mazar-e Sharif. Außerhalb der Stadt wurden sie in einen Gefängniskomplex der Kaladshari-Festung eingewiesen, wo überprüft werden sollte, ob sich Al-Qaida-Mitglieder in ihren Reihen befinden. Unerwartet begannen sie aber zu revoltieren, ihre Bewacher zu entwaffnen und einen Ausbruch zu versuchen. Im Handumdrehen gewannen sie die Oberhand, bemächtigten sich sogar Panzer und schwerer Geschütze. Erst die angeforderten Bombardierungen durch USA-Flugzeuge machten dem Aufstand ein Ende. Hunderte Taleban wurden dabei getötet. Unterdessen hat Washington auch den Tod eines USA-Bürgers bestätigt. Ein zweiter US-Amerikaner sei bei dem Aufstand verletzt worden. Der Getötete habe für die CIA in Afghanistan gearbeitet, sei aber kein Regierungsangestellter gewesen
In Gefangenschaft starb auch Osama bin Ladens Vize-Chef für Militäroperationen, der radikal-islamische Usbeke Juma Namangani, Führer der illegalen Islamischen Bewegung Usbekistans. Er war in den Kämpfen um Mazar-e Sharif verwundet worden. So rückt erneut das Thema in den Blickpunkt, wie mit den ausländischen Taleban verfahren werden soll. Pakistan möchte, dass seine Landsleute ungehindert in die Heimat zurückkehren können, wo sie bestraft werden sollen. Einige Führer in der Nordallianz wollen die Gefangenen vor ein afghanisches Kriegsgericht stellen - das es noch gar nicht gibt. UNO-Agenturen verweisen auf ihre Erfahrungen, dass in Afghanistan Kriegsgefangene wenig Chancen haben, fair und menschlich behandelt zu werden. Berichte von blutiger Rache an ausländischen Taleban bezeichnete Präsident Burhanuddin Rabbani jedoch als unwahr und »giftige Propaganda«. Er erläuterte: »Jene Ausländer, die um unsere Gnade bitten, übergeben wir der UNO. Die wird wissen, was sie zu tun hat.« Für die UNO ist das freilich ein völlig neues Problem. Bisher sind Fragen von Kriegsgefangenen vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes behandelt worden. Vielleicht kann die Konferenz in Bonn auch zu diesem Problem eine einheitliche Position vereinbaren.
Nach dem Fall von Kunduz orientiert das Pentagon sich jetzt voll auf den Süden Afghanistans, auf das Kernland der Taleban. Sonderkommandos sind dort bereits seit längerer Zeit im Einsatz. Nach Angaben des Fernsehsenders CNN sollen dort am Montag nahe Kandahar nun rund 700 Elitesoldaten gelandet sein. Innerhalb der nächsten 24 Stunden werde die Präsenz auf bis zu 1500 Mann erhöht. Dieses Engagement erfolgt zu einem Zeitpunkt, da sich Aktionen lokaler Paschtunenführer mehren, die Taleban zum Aufgeben zu veranlassen.
Das trifft auch auf den Ort Spin Boldak zu. Er liegt genau an der Fernverkehrsstraße zwischen dem pakistanischen Grenzposten Chaman und Kandahar, ist also von strategischer Wichtigkeit für den Nachschub der Taleban-Hochburg. Verlieren die Taleban die Kontrolle über Spin Boldak, wird ihnen auch eine Fluchtroute blockiert. Schon jetzt ist die Flüchtlingsorganisation UNHCR in schwieriger Lage, weil sie sich um die über 1500 an der afghanisch-pakistanischen Grenze gestrandeten Flüchtlinge nicht richtig kümmern kann. Die hohe Anzahl wehrpflichtiger Männer in dieser Gruppe führt zu dem Verdacht, es könnte sich um ehemalige Taleban handeln. Pakistan, dessen Grenzen noch immer geschlossen sind, lehnt eine Aufnahme solcher verdächtigen Personen ab. Sie müssten »herausgefiltert« werden, aber niemand weiß, wie das auf faire Art zu machen wäre.
Dass die Taleban vorläufig keine Chance haben, an einer provisorischen Regierung in Kabul beteiligt zu werden, ist nicht nur die Auffassung der Nordallianz. Sie selbst lehnen einen solchen Gedanken in der Hoffnung ab, nochmals Herrscher über ganz Afghanistan zu werden. Haron Amin, ein Sprecher der Nordallianz mit Sitz in New York und jetzt auch in Bonn anwesend, äußerte zur Zukunft der Gotteskrieger eine interessante Meinung: Wenn der politische Prozess in Gang gekommen sei und sich im Laufe der Zeit in demokratischen Strukturen verfestigt, dann könnten sich die Taleban in Form einer politischen Gruppierung oder Partei bei Wahlen durchaus dem Votum der Bevölkerung stellen.
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