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Der jüngste Mensch im All

Zum Tod des Kosmonauten German Titow Von Horst Hoffmann

  • Lesedauer: 3 Min.

Vor zwei Wochen, am 11. September, hatte German Stepanowitsch Titow noch seinen 65. Geburtstag gefeiert. Er wurde geehrt als der Dienstälteste unter den 100 sowjetischen und russischen Kosmonauten und gleichzeitig der rund 400 Raumfahrer aus 30 Ländern über haupt.

Im Altai-Dorf Werchneje Schilino geboren, erhielt Titow eine Ausbildung als Flugzeugführer in den sowjetischen Luftstreitkräften. 1959 gehörte er zu den legendären ersten Sieben der »Gagarin- Garde«, die unter 250 der besten Piloten des Landes ausgewählt wurden. Er war Freund und Double von Juri Gagarin und flog am 6. und 7 August 1961 als zweiter Mensch in den Kosmos. In rund 25 Stunden umkreiste er 17 Mal die Erde und legte eine Flugstrecke von mehr als 700 000 Kilometer zurück. Der erste Amerikaner John Glenn folgte ein halbes Jahr später mit knapp fünf Stunden. Als erster Mensch fotografierte Titow mit einer Handkamera die Erdoberfläche aus dem Weltraum und steuerte in der Umlaufbahn sein Raumschiff »Wostok 2« manuell.

Als er damals Berlin überflog, ertönten im Ostteil der Stadt zwei Minuten lang die Sirenen der Betriebe, die Schiffsglocken der Weißen Flotte und die Taxifahrer ver anstalteten ein Hupkonzert. 30 Jahre später wurde bekannt, dass Nikita Chruschtschow persönlich den Startter min festgelegt hatte. Offensichtlich wollte er mit diesem sensationellen Raumflug vom bevorstehenden Mauerbau in Berlin am 13. August ablenken und Walter Ulbricht Schützenhilfe leisten.

Unmittelbar nach dem Flug kam Ger man Titow, der sympathische junge Mann, mit seiner schönen Frau Tamara in die DDR und besuchte die Leipziger Herbstmesse. Viele Brigaden, Schulen und das Zentralhaus der Jungen Pioniere in Berlin trugen seinen Namen. In der Gesellschaft für Weltraumforschung und Raumfahrt der DDR war er Ehrenmitglied. Mit Sigmund Jahn verband ihn eine Freundschaft.

Nach seiner Landung in Krasny Kut im Gebiet Saratow berichtete der 25-Jährige als erster über die Symptome der Raumkrankheit - Schwindelgefühl und Übelkeit - die seitdem bei jedem zweiten Raumreisenden in den ersten Flugtagen auftreten. Nach dem tragischen Tod von Juri Gagarin 1968 gehörte German Titow zum Untersuchungsausschuss für die Absturzur sachen. Wiederholt wurde ihm mit dem Rausschmiss gedroht, weil er unbequeme Fragen stellte. Seit den 60er Jahren wirkte der bescheidene und beliebte Offizier als Kommandeur der bemannten militärischen Stationen »Almas« und später als Chefausbilder für die Testflüge im Programm der Raumfähre »Buran«. In seiner militärischen Karriere brachte er es bis zum Generaloberst.

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens widmete sich Titow der Politik, er war Abgeordneter der Duma für die Kommunisten und arbeitete im Verteidigungsausschuss mit. Er setzte sich für die Erhaltung der Raumstation »Mir« ein und wirkte als Präsident der Russisch-Vietnamesischen Gesellschaft. 1998 nahm er am »Tag der Raumfahrt« in Neubrandenburg teil und besuchte Peenemünde. Nach John Glenn befragt, der mit 77 Jahren noch einmal ins All flog, antwortete er- »Ja, Glenn ist nun der älteste Mensch, der je die Erde verließ. Aber ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich zum Zeitpunkt des Starts der jüngste Mensch war, der ins All aufbrach. Natürlich ist in mir der Wunsch wach geworden, den Rekord von Glenn zu brechen. Aber bis dahin müsste ich noch 15 Jahre warten. Wenn der liebe-Gott mir bis dahin Gesundheit schenkt, möchte ich es gerne versuchen.«

Das war ihm nicht vergönnt. Am Donnerstag wurde Titow tot in der Sauna seines Hauses gefunden, gestorben wahr scheinlich an einer Kohlenmonoxid-Ver giftung.

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