Noch bevor die Redaktion das Licht ausmacht ...

... nimmt »Neues Deutschland« materielle Gestalt an

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 10 Min.
Vor 20 Jahren, als »Neues Deutschland« 40 wurde, schrieb ich für einen Festdruck: »Zeitung wird aus Zeit gemacht«. Das stimmt. Aber Zeitung wird auch aus Papier und Farbe gemacht, zum Beispiel. Was passiert eigentlich, wenn die Redakteure, Bildbearbeiter und Gestalter ihre Arbeit vollbracht haben? Was muss passieren, damit die Leser morgens pünktlich ihre Zeitung in der Hand halten? Wer sind die Menschen, die das bewerkstelligen?
Zeitung wird aus Zeit gemacht. Die Zeit rast. Innerhalb der letzten 20 Jahre hat sich die Zeitungsherstellung revolutioniert. Den Setzer, der damals Zeile für Zeile in Blei presste, und den Metteur, der diese Zeilen dann in einer Art Setzkasten aneinanderfügte, gibt es in der Zeitungsherstellung nicht mehr. Die EDV hat Einzug gehalten. Der Computer ist jetzt ihr Meister.
Meister auch von uns Redakteuren. Hämmerten wir vor 20 Jahren Manuskripte noch auf der Schreibmaschine, benutzen wir heute dazu Computer. Das ist ganz angenehm: Um Schreibfehler zu korrigieren, brauchen wir kein Tip-Ex mehr, und wenn uns beim Schöpfen eines Textes plötzlich doch noch ein Geistesblitz trifft, müssen wir nicht von vorn beginnen - wir können ganze Textpassagen einfach löschen oder umheben: Alles sieht gleich wieder tip top aus. Weniger angenehm, wenn auch sehr praktisch: Mit Hilfe des Computers schreiben oder bearbeiten wir nicht nur Texte, sondern geben bereits jene Daten ein, die sowohl den einzelnen Artikeln als auch der ganze Zeitungsseite ihr Gesicht verleihen. Das heißt, wir legen fest, wie groß ein Text, seine Überschrift, das dazu gehörige Bild und wie jedes einzelne Element auf der Seite platziert werden soll. Ich behaupte: Kaum einer von uns versteht wirklich, was er da tut. Wir drücken lediglich ein paar Tasten, wie man es uns gleichsam mit Hilfe des Pawlowschen Reflexes antrainiert hat. Nach dem Motto: Tust du das Richtige, wirst du belohnt. Das funktioniert, weil wir mit den richtigen Tastendrucken bestimmte Programme auslösen. Diese Programme hat unser System-Administrator Ralf Ziplies geschrieben.

Herr der Computer
Ist der Computer unser Meister, so ist Ralf der Herr der Computer. Zum Glück sieht Ralf überhaupt nicht wie ein »Herr« aus, sondern in Jeans und Sweatshirt wie ein Freund. Er ist ein Freund. Früher hat Ralf bei Carl Zeiss Jena gearbeitet, sich später bei Siemens zum Softwareentwickler für Netzwerke weitergebildet. Trotzdem blieb der verheiratete Vater von drei Kindern danach zunächst arbeitslos. Bis er sich beim ND bewarb. Wann immer einer von uns zu ihm stürzt, weil plötzlich ein Text vom Bildschirm verschwand, sagt er ruhig: »Das kriegen wir hin.« Meist kriegt er es hin. Denn meist haben wir im Eifer des Gefechts nur eine falsche Taste gedrückt. Manchmal haben wir aber auch die richtige Taste gedrückt, und der Text ist trotzdem weg - die Technik ist auch nur ein Mensch. Ralf redet ihr dann mit der virtuousen Fingerkunst eines Pianisten zu, und sie lässt sich überlisten.
Ich habe den Redaktionsalltag an dieser Stelle kurz gestreift, weil schließlich erklärt werden muss, wie die Daten in die Computer kommen, die alle weiteren Schritte steuern. Haben wir sämtliche Daten für eine Seite eingegeben und gesichert, kann auch die innerredaktionelle Abteilung Herstellung darauf zugreifen. Die legt noch einmal letzte Hand an, bevor sie die Seite drei Mal in Papierform ausdruckt. Jetzt kann der Chef vom Dienst sie lesen, wir lesen noch einmal Korrektur, und wenn alles ist, wie es sein soll, kann die Seite »gerippt« werden.
Das Wort »rippen« hat nichts mit Jack the Ripper zu tun. Es ist lediglich die für uns Normalsterbliche sprechbare Variante eines Fachausdruckes: RIP steht für Raster Image Processor. »Rippt« unsere Herstellung eine Seite, erzeugt dieser Prozessor eine Datei, die ein Bild ist. Ein Bild, auf dem die Buchstaben Punkt für Punkt erstellt werden. Mittels dieses Bildes wird später die Druckplatte entstehen. Aber noch ist es nicht so weit. Wir Redakteure bekommen noch einmal den Ausdruck einer »gerippten« Seite, damit wir letztmals kontrollieren können, ob sie fehlerfei ist. Wir zeichnen sie dann nach bestem Wissen und Gewissen ab - unser O.k., dass sie in die Druckerei kann.
Natürlich geht nicht dieser Papier-RIP in die Druckerei, sondern die »gerippte« Datei. Die wird nach unserem O.k. von den Kollegen der MVVG freigeschaltet. MVVG ist das Kürzel für Medien Versand- und Vertriebsgesellschaft, eine Tochter von Neues Deutschland, Druckhaus Schöneweide und der Media Service GmbH. Unsere MVVG-Kollegen Daniel Gysi, Ralf Engel, Frank Rehbaum, Detlef Thomas und Ingo Maaß arbeiten im Erdgeschoss des Bürohauses am Franz-Mehring-Platz 1, in den Räumen der Media Service GmbH. Das macht Sinn, denn sie sind auch in deren Produktion eingebunden - beispielsweise erstellen sie Visitenkarten und Flyer im Digitaldruck. Aber nachmittags, ab 14 Uhr, kümmern sie sich vorwiegend um das ND. Seite für Seite geben sie für die Druckerei frei, zunächst für die so genannte A-Ausgabe, die in das gesamte Bundesgebiet geliefert wird, also noch einen langen Weg vor sich hat und deshalb früher fertig sein muss als die so genannte B-Ausgabe, die Ausgabe für Berlin und Brandenburg. Die ersten Seiten, die sie freigeben, sind in der Regel die des Feuilletons - die haben den frühesten Redaktionsschluss. Den spätesten Redaktionsschluss hat die Seite 1. Die »B« hat somit den Vorteil, aktueller als die »A« sein zu können.
Gegen 16.30 Uhr taucht Xaver Aichinger im Foyer auf. In der MVVG nimmt er die Versandunterlagen für die Ausgabe des nächsten Tages entgegen, die schon bald gedruckt und auf Reisen geschickt werden wird. Wer Xaver ein Mal gesehen hat, wird ihn vermutlich wiedererkennen: Ein dichter Vollbart umrahmt sein Gesicht, das nie griesgrämig, sondern stets freundlich ist, und auf dem Kopf trägt er ein Basecap - als sei er noch ein junger Spund und der Bart nicht längst schlohweiß. Xaver ist 71. Er hat in seinem Leben viel gelernt und erlebt. Zunächst hat er Pädagogik studiert, sich aber nach dem 17. Juni 1953, da er nichtsahnend in die Straßenschlachten geraten war, nicht nach Ostberlin zurückgewagt.
Nach Jahren als Bergmann im Ruhrgebiet war er 1956 in die DDR heimgekehrt. Wieder Bergbau, diesmal bei Zwickau, später Schweißer in einem Stahlbaubetrieb. 1977 meldete er sich zur FDJ-Initiative nach Berlin-Marzahn und irgendwann studierte er noch einmal: Ausstellungsgestaltung in Schöneweide. Von 1980 bis 1993 hat er alle Ausstellungen der Humboldt-Uni ausgerichtet. Seitdem ist er Rentner. Da ihm der Garten fehlt, in dem Rentner sich normalerweise verausgaben, tritt er hier jeden Nachmittag, außer samstags, seinen Dienst an. Er versteht ihn als »politische Arbeit«, und natürlich liest er auch selbst ND. Und »junge Welt«. Das »Neue Deutschland« ist ihm manchmal »zu beliebig«, die »junge Welt« zu sehr Revolverblatt. »Aber«, sagt er, »ohne meine beiden Zeitungen käme ich nicht aus.«
Hat Xaver die Versandunterlagen entgegengenommen, steigt er in den kleinen gelben Transporter, der fast wie ein Postauto aussieht. So etwas ähnliches ist er ja auch. Xaver bringt die Unterlagen in das Druckhaus Schöneweide, das sich längst nicht mehr in Schöneweide befindet, sondern in Neukölln. Gegen 17 Uhr biegt er auf das Gelände an der Ballinstraße 15. Xaver springt aus dem Transporter, um seine Sendung abzuliefern.

Druckhaus Schöneweide
Das Druckhaus Schöneweide zog im Juli 2000 nach Neukölln, weil es modernisieren musste. Der neue Standort sei optimal, sagt Andreas Makus, seit 2002 Geschäftsführer - hier habe man Autobahnanbindung, die Logistik sei besser zu händeln. Das Sortiment der Druckerei, die neben der großen Rollenoffsetdruckmaschine auch über Kleinoffset- und mehrere A1-Bogenoffsetmaschinen verfügt, reicht von Visitenkarten über den Autokatalog bis zum Bildband. Zu den Kunden gehören die Volkswagen AG, BMW, Sony, der Bastei-Verlag, »Örtliche« Telefonbuch-Verlage und - über Berliner Agenturen - unter anderem das KaDeWe, Lafayette, Berlin-Chemie, die BVG. Auch für »Die zweite Hand« wird hier gedruckt, aber »Neues Deutschland« ist die einzige Tageszeitung. ND ist seit dem 1. Januar 1997 Kunde. Für das Druckhaus Schöneweide eine »kaufmännische Entscheidung«: Erstens garantiere ND eine »sehr planbare Auslastung« der Rollenoffsetdruckmaschine, und zweitens sei ND ein »solventer Kunde«. Läuft man durch die Druckerei, in der überall gearbeitet wird, sieht man, die Geschäfte laufen gut.
Schon lange, bevor Xaver sich auf den Weg ins Druckhaus machte, sind zahlreiche »gerippte« ND-Seiten hier eingetroffen. Via Datenautobahn. Eigentlich hat die Druckerei über einen Rechner ja jederzeit Zugriff auf alle Daten, auf die auch Redaktion und MVVG zugreifen können. Aber, zur Erinnerung: Erst nachdem die Kollegen der MVVG das O.k. für eine Seite durchgestellt haben, werden die Daten vom Computer in den Belichter geleitet, auf dem die Druckplatte belichtet und entwickelt wird. Die Druckplatte ist aus Aluminium und sehr leicht, auch dies anders als vor 20 Jahren. Ist der Belichtungsvorgang abgeschlossen, zeigt die Platte dunkle Punkte - an ihnen bleibt später die Farbe haften. Zum Schluss bekommt die Platte noch eine Kante, damit sie in die Druckmaschine eingespannt werden kann.
Eine fertige Druckplatte nach der anderen wurde im Laufe des Nachmittags schon in die Rollenoffsetdruckmaschine eingespannt. Sie ist 24,70 Meter lang, 7,80 Meter hoch und 5 Meter breit - ein ziemlicher Koloss. Aber erst, wenn die letzte Platte in der Maschine ist, kann der Druckvorgang beginnen. Dabei wird die Farbe über viele Walzen auf die Platten und von dort auf ein mit einem Gummituch bespannten Zylinder übertragen, der den eigentlichen Druckvorgang auf das Papier übernimmt.
Jetzt ist es 18.30 Uhr. Redaktionsschluss für die letzte Seite der A-Ausgabe, also den RIP der Seite 1, war um 18.15 Uhr. Die letzte Datensendung von der Redaktion hierher sollte in dieser Minute erfolgt sein. Deadline für den Andruck: 18.45 Uhr. Jemand überbringt die Nachricht, dass sich die Datensendung der Redaktion verzögert. Guido Skusa, 30 und Abteilungsleiter Rollenoffsetdruck, kontrolliert noch einmal, ob alles perfekt vorbereitet ist. Skusa hat im Druckhaus Schöneweide gelernt. Er liebt seinen Beruf. Zwar ist der Beruf des Druckers immer noch schmutzig, aber die Technik zu beherrschen, ist für Skusa Herausforderung: Wenn er Schwierigkeiten beheben kann (»es sollten nicht allzu viele sein«), ist das für ihn ein Erfolgserlebnis. Um 18.40 kann Skusa endlich die Druckplatten für die Seite 1 einspannen: Es sind drei - die Titelseite soll ja farbig erscheinen, und das satte Türkis der Balken muss aus drei Farben gemischt werden. Trotzdem kann Skusa die Maschine vom elektronischen Leitpult aus pünktlich starten. Und Ääääktschen!
Irgendetwas klemmt im Getriebe! Skusa verlässt kurzzeitig das Leitpult, sprintet, mit Gehörschutz, zum Druckturm hinauf, korrigiert etwas von Hand und stürzt zum Leitpult zurück. Inzwischen sind bereits die ersten Exemplare der morgigen ND-Ausgbe durch den Falzapparat gelaufen, der die frisch bedruckte Papierbahn schneidet und falzt. Sie laufen über ein Band neben dem Leitpult - jetzt zählt jede Sekunde. Wie Leistungssportler rennen Skusa und sein 20-jähriger Kollege Pat Adolphs zwischen Band und Leitpult hin und her, ständig ein Exemplar greifend, es auf Qualität prüfend, die Knöpfe auf dem Pult malträtierend, um Farbe hinzuzugeben oder herauszunehmen. Spätestens fünf Minuten nach dem Andruck sollte das erste brauchbare Exemplar hergestellt sein. Heute haben Skusa und Adolphs es in vier Minuten geschafft. Um 18.49 Uhr gibt Skusa das Signal, dass die Ausgabe »durchgelassen« werden kann - durchgelassen zur Packmaschine. Dies ist der Zeitpunkt, an dem sich Xaver ein paar Exemplare schnappt und diese in die Redaktion fährt.

Gitarrist als Versandchef
Noch bevor in der Redaktion das Licht ausgeht, hat die A-Ausgabe materielle Gestalt angenommen. Die Packmaschine, wie der Name sagt, packt die frisch gedruckten Zeitungen zu Paketen zusammen. Die werden hinaus auf den Hof gebracht, wo schon die Fahrzeuge der Zustelleragenturen warten, um sich in alle Himmelsrichtungen in Bewegung zu setzen. Jene 5000 Exemplare freilich, die am nächsten Morgen per Post zugestellt werden, gehen noch durch die Hände der MVVG-Versandabteilung, welche die Versandunterlagen schon nach Touren sortiert hat. Stanko Borissov ist dort Chef. Der 54-Jährige studierte klassische Gitarrist kam 1980 mit einem Vertrag zwischen »Sofiakonzert« und der Künstleragentur der DDR nach Berlin. Mit seiner Band spielte er in allen Interhotels der damaligen DDR-Bezirkshauptstädte. Schon nach einem Jahr stand fest, dass er nicht nach Bulgarien zurückkehren würde, denn damals lernte er seine Frau Ricarda kennen. Seit 1997 arbeitet Borissov bei der MVVG. Er und sein Team, das aus Schülern, Studenten und Rentern besteht, adressieren die Postexemplare, wobei ihnen der »Inkjet«, eine Tintenspritzmaschine, hilft. Tagsüber etikettieren sie Printprodukte des PDS-Parteivorstandes, aber auch den »Mittelstand« oder das »Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt« - Aufträge des Druckhauses.
Jetzt ist dafür keine Zeit. Bis 19.40, spätestens 20 Uhr müssen alle ND-Postexemplare adressiert sein. Danach geht es mit der B-Ausgabe weiter. Der RIP für die Titelseite der »B« erfolgt in der Redaktion um 20.15 Uhr. Letzte Datensendung: 20.20 Uhr. Andruck: 20.35 Uhr. Spätestens 21.30 Uhr gehen die Postexemplare bei Borissow raus. Die Zeit rast. Schon weit vor Sonnenaufgang müssen die Zusteller die Zeitungen in Händen halten, um sie in die Briefkästen zu stecken. Damit unsere Leser pünktlich einen Blick auf die Zeit werfen können.

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