Nach Mekka, Medina und Jerusalem die »vierte Stadt im Reiche des Islam«
Jochen Reinert
Lesedauer: 7 Min.
Von Sousse, der Sahel-Metropole mit der alles überragenden Kasbah, ist es nur ein Katzensprung bis Kairouan. Vorbei an unendlichen Olivenhainen und trockenen Halfagrasfluren eilen wir der heiligen Stadt der Muslime entgegen - im Kopf die Bilder von tausenden muslimischen Pilgern, für die Kairouan nach Mekka, Medina und Jerusalem wichtigste Adresse ihrer Verehrung des Propheten Mohammed ist. Und plötzlich liegt die legendäre Stadt mit den weithin weiß leuchtenden Kuppeln der Moscheen und Marabouts in einer weiten Ebene vor uns.
Eine Tunesienfahrt ohne einen Abstecher in die islamische Hochburg Kairouan - das konnte sich auch Hermann Pückler-Muskau anno 1835 nicht vorstellen. Deshalb zog der preußische Fürst, der von Algier herübergesegelt war, alle Register seines weltmännischen Charmes, um den Bey von Tunis für sein Reiseprojekt zu gewinnen. Denn ohne Hassan Bey, der mit dem Segen der Osmanen über Tunesien herrschte, wäre ein Besuch Kairouans ein Traum geblieben. Der Bey erlaubte ihm schließlich, das heilige Kairoun »zu berühren, wo kein Christ ohne speziellen Befehl des Souveraines Einlass erhält, und kein Jude sich bei Todesstrafe blicken lassen darf« - so schildert es Pückler in seinem Reisebuch »Semilasso in Afrika«. »Nach mehreren Hin- und Herschreiben gestattete man mir nur hindurchzureiten, und gab an, dass meine eigene Sicherheit dies erfordere...«
Wer heute Kairouan sehen möchte, braucht keine besondere Erlaubnis des Landesherren Zine el Abidine Ben Ali, der Tunesien nicht weniger autoritär als einst Hassan Bey regiert. Kairouan öffnete ein halbes Jahrhundert nach Pückler seine Tore, und viele berühmte Tunesienreisende wie die Maler Gustav Klee und August Macke oder die Dichter Guy de Maupassant und Rainer Maria Rilke versuchten hier die Annäherung an eine fremde Kultur.
Einst wurde Kairouan gerühmt als »Stadt der 300 Moscheen«. Seit ihrer Gründung im Jahre 670 durch die nach Mohammeds Tod rasch in Nordafrika vorrückenden islamischen Heerscharen hat sie manche Glanzzeit, aber auch wirtschaftlichen Niedergang erlebt. Während der Aghlabiden-Herrschaft im 9. Jahrhundert Hauptstadt der neuen arabischen Provinz Ifriqya, verlor sie die Kapitalenwürde bald an Tunis. Mit 115 000 Einwohnern ist Kairouan heute Tunesiens fünftgrößte Stadt. Und noch immer können Gläubige zwischen rund 100 Moscheen und Gebetshäusern wählen.
Schon am nördlichen Stadtrand, an den Bassins der Aghlabiden - aufwändig restaurierte Zisternen, die einst die Wasserversorgung sicherten - tummeln sich Reisende aus vieler Herren Länder, und kein Religionswächter hält sie auf. Allerdings wird ihnen bedeutet, dass sie hier an einem besonderen Ort sind: Besucher sind verpflichtet, angemessene Kleidung zu tragen, keinen Lärm zu machen, nicht zu rauchen und die Gebetssäle nicht zu betreten. Die Stadt, erläutert unser beflissener Führer Salah Letaief, ist religiöses Zentrum des Landes und ganz Nordafrikas geblieben. Jahr für Jahr strömen hunderttausende Pilger vor allem zu den großen religiösen Festen im Fastenmonat Ramadan und am Geburtstag Mohammeds nach Kairouan; sieben demütige Reisen hierher wiegen für die Gläubigen eine Hadsch, eine Pilgerfahrt ins allerheiligste Mekka, auf.
Der Pückler-Tross näherte sich Kairouan an einem heißen Maitag. »Die Sonne stand noch ziemlich hoch«, notiert der in die »Semilasso«-Haut geschlüpfte Fürst, »als wir schon die Thürme der berühmten Moschee und der heiligen Stadt am Horizont empor steigen sahen, in der die Araber ihren ersten Wohnsitz in Afrika aufschlugen, von wo aus sie Spanien eroberten, und endlich nahe daran waren, ganz Europa dem Islam zu unterwerfen.« Die Nachfahren der Aghlabiden wissen, was sie ihrem Bey schuldig sind, und empfangen Pückler mit Pomp. Der Gouverneur schmeichelt seinem Gast mit der Bemerkung, dass er »seines Wissens erst der vierte Christliche Reisende sey, der hierher gekommen, und Keinem wäre bisher vergönnt worden, sich so lange hier aufzuhalten«.
Glaubt man Pückler, so gefielen den zum Empfang erschienenen »Häuptern der Geistlichkeit« auch »die Ehrfurcht, welche ich für Muhammed bezeigte, und meine angelegentlichen Fragen nach Allem, was die Heiligkeit Keruans betraf«. So erfährt er, dass Kairoun »den hohen Vorzug, die vierte Stadt im Reiche des Islam zu seyn, hauptsächlich dem Umstand verdanke, dass des Propheten Freund und Barbier (eine hohe Charge bei den Gebietern des Orients, weil sie ein großes Vertrauen erheischt), hier begraben sey; er ... soll selbst den Platz für die große Moschee ausgesteckt haben, die nachher der Sultan Benirlib darauf erbaute«.
Just die Große Moschee hat es Pückler angetan. Er umrundet den Bau »wie der Fuchs einen Taubenschlag, begierig, etwas vom Innern zu erspähen, was uns jedoch nicht gelang, denn alle Thore waren sorgfältig verschlossen.«
Heute sind die Tore der Großen Moschee weit geöffnet. Schon der erste Eindruck vom ältesten islamischen Bauwerk in Nordafrika, das Eingang in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes fand, ist überwältigend: ein architektonisches Wunder, gekrönt von einem turmartigen, majestätischen Minarett. Dessen Stufen bestehen zum Teil aus frühchristlichen Grabplatten - was den Sieg des Islam über das Christentum symbolisieren sollte. Vor dem Gebetssaal wuchtige Arkaden, deren Bögen ebenso wie die dunkle Zederndecke des tiefen Raumes von antiken Säulen getragen werden. »Alle Ruinen der Umgebung«, wusste schon Pückler, »sind zum Bau dieses colossalen Tempels geplündert worden.« Über der Mihrab, der Gebetsnische, wölbt sich eine Kuppel mit Pflanzenornamenten, eine der harmonischsten Kompositionen der islamischen Kunst.
Doch als heiligster Ort in Kairouan gilt jenes Grab des Mohammed-Vertrauten Abu Zama, der mit den ersten muslimischen Kriegern nach Ifriqya kam. Heiß verehrt wird er, weil er der Legende nach stets drei Barthaare des Propheten bei sich trug und mit ihnen beerdigt wurde. Vor dem Grab im Herzen der im 17. Jahrhundert errichteten Barbiermoschee wacht Omar, ein kräftiger Fezträger, der die Besucher, die nahe genug herankommen, mit ein paar Tropfen Rosenwasser besprenkelt und dafür ein Bakschisch reklamiert.
Neben dem Mausoleum erstrecken sich die Räume der berühmten Zaouia des Sidi Sahab, eines der vielen religiösen Seminare im alten Tunesien, Keimzellen der Orden und Bruderschaften des Islam. Guy de Maupassant ließ keinen guten Faden an den Bruderschaften. Sie hätten sich, so schreibt er nach seinem Kairouan-Besuch1881, »seit Beginn dieses Jahrhunderts beträchtlich ausgebreitet und bilden das gefürchtete Bollwerk der mohammedanischen Religion gegen die europäische Zivilisation und Herrschaft«.
Doch nach der tunesischen Unabhängigkeitserklärung war es mit den Zaouias vorbei. Staatsgründer Habib Bourguiba, berichtet Salah Letaief, schränkte den Einfluss des Islam drastisch ein, verbot die Polygamie und schaffte die islamische Gerichtsbarkeit ab. Die Imame von Kairouan verloren an Deutungsmacht, sie liege heute allein beim Obermufti von Tunis.
Und die Orden und Bruderschaften? Letaief weicht aus, weiß mehr als er sagt. Jedenfalls wächst auch in Tunesien der Einfluss der Fundamentalisten. Bei den Parlamentswahlen 1989 erhielten sie auf einer Liste der Unabhängigen plötzlich 14 Prozent der Stimmen - Anlass für scharfe Restriktionen der Staatsmacht. Präsident Ben Ali trägt der Re-Islamisierung der Gesellschaft indes bis zu einem gewissen Grade Rechnung: Er finanziert den Bau von Moscheen und ließ sich 1993 nicht nehmen, die restaurierte Barbiermoschee mit einer großen Zeremonie wieder zu eröffnen. An Kairouans Stadteingang präsentiert er sich auf einem riesigen Plakat als Gläubiger.
Der Dichter Hassin Kahouaji, dem wir im Maison de Culture begegnen, kennt sich in den Schriften deutscher Kairouan-Reisender aus. Von Fürst Pückler weiß er, dass jener die ganze Stadt durchstreifte, aber keinerlei islamischen Fanatismus beobachtete. Der Islam ist für Pückler ein »wunderbares Gemisch von Tugenden und Laster, von unerschütterlicher Willenskraft, tiefem politischen Sinn und maßlosem Ehrgeiz, der die Instinkte und Leidenschaften der Massen in Bewegung setzt«. Der junge Dichter weiß auch von Rainer Maria Rilke. »Kennen Sie nicht seinen Kairouan-Brief an seine Frau Clara?« fragt er. Darin findet sich ein geradezu emphatisches Bekenntnis: »Wunderbar empfindet man hier die Einfachheit und Lebendigkeit dieser Religion, der Prophet ist wie gestern und die Stadt ist sein wie ein Reich.«
Zum Abschied kauft Pückler auf dem Souk eine Flasche »Athar«, möchte sich offenbar den Duft der heiligen Stadt bewahren. Wir versuchen es ihm nachzutun. »Athar« - lächelt der bärtige, streng traditionell gekleidete Nasr Hammouda, der aus dem Hintergrund seines Parfüm-Ladens hervortritt, »das ist die gute alte Rosenessenz, die in Tunesien seit über 500 Jahren in unveränderter Komposition hergestellt wird.« Er holt eine bauchige Flasche aus dem Regal und lässt uns den betäubenden Duft aufnehmen, während er wieder und wieder Athar murmelt, was bei ihm wie Äther klingt.
Bald sind wir handelseins über ein Flakon geronnenen Rosenbuketts, doch dann verschwindet Hammouda schnell wieder im Halbdunkel des Gewölbes. Wir hätten ihn gern so manches gefragt - Kairouan, »die vierte Stadt im Reiche des Islam«, entlässt uns mit unbeantworteten Fragen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.