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Ein Mahner, ein Gerechter

Paul Spiegel ist tot: Mehr als ihm lieb war, musste er sich mit dem Antisemitismus beschäftigen

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit Trauer und Betroffenheit haben Partei- und Verbandspolitiker auf den Tod des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, reagiert. Der 68-Jährige war in der Nacht zum 30. April nach schwerer Krankheit gestorben.
Laut dem Alten Testament wollte Gott die Städte Sodom und Gomorra ob ihrer moralischen Verwahrlosung vernichten. Er verkündete dies Abraham, worauf dieser mit seinem Herrn zu feilschen begann: »Herr, willst du die Gerechten zusammen mit den Gottlosen vernichten? Wenn es 50 Gerechte in den Städten gibt, wäre das nicht ein Grund, die Städte zu verschonen?« Gott versprach Milde, sollten gar nur zehn Gerechte gefunden werden. Wir wissen, wie die Geschichte endete: Es fanden sich keine zehn Gerechten, und Sodom und Gomorra wurden dem Erdboden gleich gemacht. Zehn Gerechte können die Rettung sein. Im übertragenen Sinne gehörte Paul Spiegel zu diesen Gerechten, die nach 1945 das moralische Überleben Deutschlands sicherten. Der Sohn eines westfälischen Viehhändlers entkam der Shoa in einem Versteck in Belgien und kehrte nach Kriegsende mit den Überlebenden seiner Familie nach Deutschland zurück. Sein Vater - Überlebender der KZ Dachau, Buchenwald und Auschwitz - engagierte sich rasch für den Wiederaufbau des jüdischen Gemeindelebens in Deutschland und Paul Spiegel tat es ihm als junger Erwachsener nach. Der gelernte Journalist wurde in den 60er Jahren Mitglied des Rates der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, der er später bis 2002 als Vorsitzender vorstand. 1989 wurde er in den Zentralrat der Juden in Deutschland berufen und 1993 zum Stellvertreter des Zentralratsvorsitzenden Ignatz Bubis gewählt, dessen Nachfolge er nach dem Tod Bubis im Januar 2000 antrat. In seine Amtszeit fiel der Abschluss des ersten Staatsvertrages zwischen dem Zentralrat und der deutschen Bundesregierung 2003. Ein großer Schritt für die Reorganisation jüdischen Lebens in Deutschland war für ihn die Anwesenheit des israelischen Staatspräsidenten Mosche Katzav bei der Eröffnung der Bergischen Synagoge in Wuppertal im Dezember 2002. Zum ersten Mal hatte damit ein hoher Repräsentant des Staates Israel die Bemühungen der deutschen Juden anerkannt, nach der Shoa wieder im Land der Täter zu leben. Die Anwesenheit Mosche Katzavs sei eine Bestätigung dafür, »dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland inzwischen endlich auch in Israel respektiert wird«, sagte Paul Spiegel damals. Paul Spiegels Geisteshaltung war nicht selbstverständlich in einem Land, dessen Bevölkerung sowie politische und geistige Führung sich in zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur gründlich und nachhaltig moralisch diskreditiert hatten. Die meisten überlebenden Juden wählten einen anderen Weg - sie gingen nach Übersee oder nach Israel. Zu seinem Amtsantritt als Zentralratschef bezeichnete er als Schwerpunkt seiner künftigen Arbeit, die Integration der vielen nach der deutschen Einheit eingewanderten Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in das jüdische Gemeindeleben in Deutschland. Eine Herkulesaufgabe, immerhin wuchs die Zahl der Juden in Deutschland durch die osteuropäische Zuwanderung von rund 20 000 Ende der 80er Jahre auf heute über 110 000 Menschen an. Dass er sich hauptsächlich dieser Aufgabe widmen könne, stellte sich allerdings recht bald als frommer Wunsch heraus. Antisemitische Schmierereien und Anschläge auf Synagogen beschäftigten den neuen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland mehr, als ihm lieb war. Nicht nur der mit antisemitischen Klischees geführte Wahlkampf des FDP-Politikers Jürgen Möllemann 2002 zeigte, dass die Zahl der Gerechten nach wie vor zu gering ist, als dass sich dieses Land moralisch stark fühlen könnte. In den Reaktionen auf den Tod Paul Spiegels atmet diese Angst. Spiegel wird unisono als engagierter Kämpfer gegen Antisemitismus und Rassismus und Anwalt von Minderheiten bezeichnet. Dass er der Nachwelt genau als das in Erinnerung bleiben muss, ist der Fluch, der schon seinem Vorgänger Ignaz Bubis zu schaffen machte. Der stellte kurz vor seinem Tod in einem Zeitschriften-Interview auf die Frage, was er in seiner Amtszeit erreicht habe, resigniert fest, dass er fast nichts habe bewegen können. Im Gegensatz zu Bubis allerdings, der sich aus Angst vor Grabschändungen in Israel begraben ließ, findet Paul Spiegel in Deutschland seine letzte Ruhestätte. Beigesetzt wird er an seinem Wohnort Düsseldorf. Gegen üble Nachrede kann er sich nicht mehr wehren. FDP-Chef Westerwelle würdigte Spiegel als »Mann des Respekts und der Toleranz«, der den Gesprächsfaden »auch über Meinungsunterschiede hinweg« nie habe abreißen lassen. Das sagt der, der im Bundestagswahlkampf 2002 seine »Meinungsunterschiede« mit Paul Spiegel hatte, weil er Wochen brauchte, um sich von dem mehr oder weniger offen zur Schau gestellten Antisemitismus des Jürgen Möllemann zu distanzieren. Man muss in Deutschland die Gerechten immer noch mit der Lupe suchen.
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