Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Vor 140 Jahren: Bauernbefreiung in Russland

Wider eine Legende

  • Sonja Striegnitz
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist stark anzuzweifeln, dass die »überwiegende Lehrmeinung« im heutigen Russland behauptet, Zar Alexander II. habe 1861 die Bauern ohne Land in die Freiheit entlassen, was der Revolution 1917 den Weg bahnte (vgl. ND vom 7 2. 2001, S. 7). Das entspricht nicht den historischen Tatsachen, denen sich die meisten russischen Historiker nach wie vor nicht entziehen. Als sich der Zarismus vor nunmehr 140 Jahren, am 19 Februar bzw. 4. März 1861, entschloss, die Leibeigenschaft aufzuheben, war es gerade der Umstand, dass die Bauern mit Boden befreit wurden, der den bürgerlichen Charakter dieser Reform bei allen ihren Halbheiten bestimmte.

Um die Art und Weise der Bauernbefreiung hatte es im Vorfeld der Reform in der herrschenden Adelsklasse heftigste Auseinandersetzungen gegeben. Eine stabile Mehrheit der Gutsbesitzer war überhaupt nicht geneigt, auf ihre »angestammten« Privilegien zu verzichten, unter denen die Allmacht über den Boden und die Bauern an erster Stelle stand. Dass sich schließlich liberal orientierte Kräfte durchsetzten und sich Alexander II. auf sie stützte (sein Motto: Lieber die Leibeigenschaft von oben aufheben als war ten, bis sie von unten beseitigt wird!), war dem Zusammenspiel tiefgreifender Prozesse im Innern und der Wirkungen der fatalen Niederlage Russlands im Krimkrieg (1853-1856) geschuldet. Diese hatte nachdrücklich auf die enorme Rückständigkeit der gesellschaftlichen Verfassung des Landes mit seinem Leibeigenschaftssystem aufmerksam gemacht und Handlungsbedarf herausgefordert.

Der Ukas über die Aufhebung der Leibeigenschaft regelte drei Grundfragen des bäuerlichen Lebens: Die Bauern erhielten die persönliche Freiheit und damals in Russland geltende Rechte. Sie konnten über bewegliches und unbewegliches Eigentum verfügen, Verträge schließen, durften ohne das Ja und Amen des Gutsbesitzers heiraten, in Bildungseinrichtungen eintreten, den Wohnort und den Bauernstand wechseln. Nach wie vor mussten sie indes als einziger Stand die Kopfsteuer entrichten, waren sie zum Rekrutendienst verpflichtet und konnten körperlich gezüchtigt werden. Die persönliche Freiheit wurde aber vor allem durch die Beibehaltung der Obschtschina (Dorfgemeinde) mit ihrem Funktionsmechanismus eingegrenzt: Sie verfügte über den gesamten bäuerlichen Boden, der,regelmäßig »umverteilt« wurde, sie haftete Gutsbesitzern und dem Staat gegenüber für Zahlungen, Abgaben, Steuern (Solidarhaft).

Die Bauern bekamen - das war die zweite wichtige Bestimmung - Boden. Seine Zuteilung war strikt reglementiert, wobei die Bodenfruchtbarkeit als Parameter zugrunde lag. Russland wurde bedingt in drei Zonen - das Schwarzerdegebiet, das Nichtschwarzerdegebiet, die Steppenzone - eingeteilt, für die jeweils eine Höchst- und eine Mindestnorm für die Größe des Bodenanteils festgelegt war. Im Endeffekt verfügten die Bauern nach 1861 über rund ein Fünftel weniger Boden als sie zuvor bearbeitet hatten, denn die Gutsbesitzer waren berechtigt, diese Normen durch »Abschneiden«, d. h. faktische Wegnahme des Überschusses, durchzusetzen. Eine Praxis, die namentlich in den Schwarzerdegebieten dramatische Folgen zeitigte - hier verloren die Bauern bis zu 40 Prozent des einst von ihnen bearbeiteten Bodens und waren (mehr als anderswo) gezwungen, weiter hin zu knechtenden Bedingungen beim Gutsbesitzer zu arbeiten oder zu pachten. Die schwerwiegendste Festlegung des Ukases war sicher die dritte - über den Loskauf. Für den Boden, den die Bauern bekamen, hatten sie zu zahlen. Die Regierung bestimmte eine Loskaufsumme, die den damaligen Marktpreis um das 1,5-Fache übertraf, was natürlich ganz den Ambitionen der Gutsbesitzer entsprach. Da kaum ein Bauer das Geld für den Loskauf aufbringen konnte, schoss der Staat 80 Prozent der Summe zum Jahreszinssatz von sechs Prozent vor, den Rest übernahm die Obschtschina. Solange der Bauer seine »Schulden« nicht getilgt hatte, galt er als »zeitverpflichtet« - für die eingeräumte Frist von 49 Jahren! Erst 1906, im Sturm der ersten russischen Revolution, sah sich der Zarismus gezwungen, die Loskaufzahlungen ganz aufzuheben.

Die von Zeitgenossen als große Reform apostrophierte Aufhebung der Leibeigenschaft löste die Agrarfrage in Russland nicht. Zustande gekommen als Kompromiss, bei dem die Belange der herrschenden Adelsklasse ausschlaggebend waren, durchgeführt von der zaristischen Bürokratie, abgesichert durch Bedingungen nach dem Prinzip »Teile und Herrsche«, konnte sie die Landarmut der Bauern, ihre Notlage und Abhängigkeit von den Gutsbesitzern nicht beseitigen, der Großgrundbesitz wurde nicht angetastet. Einigermaßen stabile Bauernwirtschaften, die für den Markt produzierten, entwickelten sich langsam und in geringem Umfang. Agrarstatistiker errechneten, dass eine Bodenfläche von mindestens 14 Desjatinen (1 D = 1,09 ha) je Wirtschaft Voraussetzung von Rentabilität gewesen wären. Um die Wende vom 19 zum 20. Jahrhundert, wiesen die meisten Wirtschaften indes durchschnittlich nur sieben Desjatinen auf! (Wenn man dies mit den 4,5 ha vergleicht, die im o.g. ND-Beitrag in den heutigen Verteilungskämpfen für das Gebiet Krasnodar angegeben werden, wird klar, weshalb deren Besitzer ihren Boden sogleich verpachteten.)

Nichtsdestoweniger gab die Reform der kapitalistischen Evolution Russlands nachhaltige Impulse. Die Agrarfrage blieb allerdings weiterhin ein Grundproblem der Gesellschaft Russlands. Das Revolutionsdekret 1917 nationalisierte den Grund und Boden und übergab ihn den Bauern zur ewigen Nutzung. Die darin angelegten Entwicklungsmöglichkeiten wurden indes rasch durch die kriegskommunistische Wirtschaftspraxis der Sowjetmacht im Bürgerkrieg mehr als paralysiert; die dann administrativ betriebene Kollektivierung der Landwirtschaft verlieh der Agrar- und Bauernfrage sozusagen eine realsozialistische Dimension. Es bleibt fraglich, ob die derzeitigen konzeptionellen Überlegungen und Schritte zur Neugestaltung des Bodenrechts mehr als eine Rückkehr zu Bekanntem in der Landwirtschaft Russlands bewirken.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -