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»Wie kommen die Gedanken in meinen Kopf?«

Philosophieunterricht in Mecklenburg-Vorpommern erfolgreich

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Martin Koch

Kinder fragen gern und viel: Wer hat die Welt erschaffen? Wie kommen die Gedanken in meinen Kopf? Existieren die Dinge auch, wenn ich nicht hinsehe? Was hält den Mond am Himmel fest? Können Tiere fühlen? Sind Träume wirk lieh? In Mecklenburg-Vorpommern wer den diese Fragen nun im Philosophieunterricht an Grundschulen beantwortet.

Vielen Eltern fehlt schlicht die Geduld oder manchmal auch das Wissen, solche Fragen sachkundig zu beantworten. »Das verstehst Du noch nicht, das erklär‹ ich Dir später«, lautet eine beliebte Ausrede, mit der Eltern die Neugier ihrer Sprösslinge zu zügeln versuchen. Auch in der Schule bleibt für philosophisch motivierte Gespräche in der Regel wenig Raum. Wenn überhaupt, dann wer den diese in die Zuständigkeit des Religionsunterrichts oder, wie in den neuen Bundesländern, des Ethikunterrichts verwiesen.

In Mecklenburg-Vorpommern dagegen können Grundschüler statt Religion das Fach »Philosophieren mit Kindern« wählen. »Die wenigsten philosophischen Fragen, die Kinder im Unterricht stellen, sind im engen Sinne Fragen der Ethik. Sehr viel öfter sind es Fragen zu metaphysischen oder ontologischen Problemen«, erklärt Silke Pfeiffer, die an der Universität Rostock jährlich etwa 30 Lehrerinnen und Lehrer berufsbegleitend für das neue Fach ausbildet.

Der Philosophieunterricht an der Grundschule beginnt bereits in der ersten Klasse und beläuft sich auf eine Stunde pro Woche. Zumindest in Europa ist das pädagogische Experiment der Schweriner Schulbehörden ohne Beispiel. Allein auf Hawaii gibt es vergleichbare Versuche, mit Kindern zu philosophieren. Doch diese finden nicht im regulären Schulunter rieht statt. Denn die Frage, ob Kinder überhaupt die Fähigkeit besitzen, sich in eine so komplizierte Materie wie die Philosophie hineinzudenken, wird seit langem kontrovers diskutiert.

Selbst Jean Piaget, der Urvater der modernen Entwicklungspsychologie, äußerte ernsthafte Zweifel an der philosophischen Kompetenz von Kindern: Da diese erst im Alter von etwa zwölf Jahren formale geistige Operationen ausführen könnten, sei es sinnvoll, ihnen bis dahin auch die Fähigkeit zum logisch-systematischen Denken abzusprechen. Der amerikanische Philosoph Gareth B. Matthews hält diese Skepsis für unbegründet. Er macht stattdessen darauf aufmerksam, dass Fünf- bis Siebenjährige viel häufiger philosophische Fragen stellen als Elf- oder Zwölfjährige.

Was auf den ersten Blick paradox er scheint, vermag Matthews durchaus plausibel zu erklären: »Kleine Kinder haben nur selten Hemmungen, ihre Neugier freiweg zu artikulieren. Jugendliche sind indes von den Erwachsenen bereits entmutigt worden, so viele >unnütze< Fragen überhaupt zu stellen.« Seit geraumer Zeit ist sogar davon die Rede, dass Kinder kleine Philosophen seien. Als Kronzeuge dieser Auffassung gilt unter anderem der deutsche Existenzphilosoph Karl Jaspers, der mehrfach die kindliche Ursprünglichkeit und Unbefangenheit lobte: »Gar nicht selten hört man aus Kindermund, was dem Sinne nach unmittelbar in die Tiefe des Philosophierens geht.«

In den konzeptionellen Überlegungen zum Fach »Philosophieren mit Kindern« gibt man sich wiederum bescheidener und nimmt auf die Tatsache Rücksicht, dass auch das logisch-systematische Denken nicht im Abstrakten reift. »Viele Fragen, die Kinder stellen, entspringen eher einem Sachinteresse, das zu philosophischen Fragen führen kann«, sagt Silke Pfeiffer. »Von vornherein jede Frage in philosophischer Dimension zu deuten, halte ich für bedenklich.«

Aus diesem Grund werden im Schulunterricht auch keine Texte von Aristoteles, Piaton oder Kant gelesen. Im Mittelpunkt steht das lockere Gespräch, in dem Kinder und Lehrer gemeinsam nach Antworten auf philosophisch relevante Fragen suchen: Was ist Glück? Wozu dienen Gesetze? Warum gibt es Gut und Böse? Wie kommen die Gedanken in den Kopf? Was ist Freiheit? Wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, finden Kinder leichter einen Zugang zu philosophischen Problemen, wenn diese in Form von Geschichten, Fabeln oder Märchen dargeboten werden. Auch Rollen- und Gedankenspiele sind wichtige Bestandteile des Unterrichts, die dazu dienen, gewonnene Einsichten zu vertiefen oder zu verinnerlichen.

Im Gegensatz zum Fach Religion, das die Schüler auf ein eher geschlossenes Bild von der Welt orientiert, sollen sie im Philosophieunterricht eigene Deutungsmuster und Sinnzusammenhänge entwickeln. Natürlich unter behutsamer Begleitung des Lehrers, wie Pfeiffer immer wieder betont: »Auch der Philosophieunterricht hat wie jeder andere Unterricht Werte zu vermitteln.« Doch diese Werte beziehen sich vorrangig auf den Prozess des Erkennens selbst. Das heißt, die Grundschüler sollen lernen, selbstständig zu denken, sich auf die Gedanken anderer einzulassen und gegebenenfalls eigene Urteile zu revidieren.

Alle Befürchtungen, Kinder könnten sich dieser anspruchsvollen Art des Denkens verweigern, haben sich als grundlos erwiesen. Die Mehrzahl der Grundschüler wählt, wo dies möglich ist, Philosophie statt Religion. »Philosophieunterricht macht einfach Spaß.« Diesen Satz bekommt Pfeiffer aus dem Munde vieler Abc Schützen in Mecklenburg-Vorpommern zu hören: »Da kann man Fragen stellen, ohne ausgelacht oder auf später vertröstet zu werden.«

Auch die meisten Eltern begrüßen das neue Fach, da es ihre Sprösslinge schon frühzeitig zum disziplinierten und kritischen Denken anhält. Noch einen Schritt weiter geht der Berliner Pädagogikprofessor Hans-Ludwig Freese. Er plädiert schon seit Jahren dafür, in der Schule ein allgemeines Pflichtfach Philosophie einzuführen. Seine Begründung: »Es ist bisweilen beängstigend, wie früh manche Kinder dem Konformismus im Denken und Fühlen verfallen, Staunen und Fragen verlernen und selbstständiges Denken scheuen.«

Um dieser Entwicklung entgegenzuwir ken, setzt Freese vor allem auf den philosophischen Dialog, in dem nicht Autoritäten, sondern überzeugende Argumente zählen. In Mecklenburg-Vorpommern wird sich forthin zeigen, wieweit diese Hoffnung trägt.

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