m Hohes Wirtschaftsgefälle an den Ostgrenzen
Osteuropäische Beitrittskandidaten liegen weit unter dem Durchschnitt der Europäischen Gemeinschaft
Von Victoria Walter, Brüssel
Das Wirtschaftsniveau der zehn mittelund osteuropäischen Länder, die der EU beitreten wollen, liegt weit unter dem Westeuropas.
Wie eine Wohlstandsinsel ragt die tschechische Hauptstadt aus der Statistik heraus: Mit 115 Prozent des EU-Durchschnitts beim Brutto-Inlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung ist ihre wirtschaftliche Leistungskraft deutlich höher als die von Berlin, das nur auf 102 Prozent kommt. Doch Prag ist die einzige von 53 Regionen der zehn mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittskandidaten, deren Wirtschaftsniveau den westeuropäischen Mittelwert über schreitet. Und nur die slowakische Metropole Bratislava kann mit 99 Prozent noch einigermaßen mithalten. Alle anderen 51 Regionen liegen unter 75 Prozent, jener Schwelle, die nach heutigem EU-Recht die besonders rückständigen Höchstförder gebiete markiert.
Die jüngsten Zahlen des Statistischen Amtes der EU (Eurostat) in Luxemburg illustrieren das enorme wirtschaftliche Spannungsfeld, das mit der Osterweiterung auf die Gemeinschaft zukommt. Sie lassen direkte Vergleiche mit den heutigen EU-Staaten und deren Regionen zu, da sie nach gleichen Kriterien erstellt wurden, zu Grunde liegen so genannte Kaufkraft- Standards (KKS). Dies ist eine künstliche Währung, mit deren Hilfe nicht auf Wechselkursen beruhende Unterschiede in den Preisniveaus der Länder herausgerechnet werden. Es irritiert in diesem Zusammenhang lediglich die Bezeichnung, weil die BIP Statistik nicht den Wohlstand der betreffenden Region, sondern das Niveau der Produktionstätigkeit beschreibt. Das verfügbare Einkommen wird noch durch andere Faktoren beeinflusst, beispielsweise Finanztransfers.
Die neun höchstentwickelten Regionen Mittel- und Osteuropas liegen allesamt in Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien. Auf Platz zehn folgt die polnische Hauptstadtregion Mazowiecki, die Warschau und Umland erfasst. Sie ist mit 53 Prozent EU-Durchschnitt allerdings einsamer Spitzenreiter in Polen. Das Nachbarland insgesamt - mit fast 40 Millionen Einwohnern mit Abstand der größte und wichtigste Beitrittskandidat - erreicht nur 36 Prozent. Die rückständigsten Regionen Mittel- und Osteuropas liegen - mit Ausnahme der ostpolnischen Region Lubelski - ausnahmslos in Rumänien und Bulgarien. Schlusslichter sind vier bulgarische Bezirke und die rumänische Nordost-Region, deren wirtschaftliche Pro-Kopf-Leistung nur 22 Prozent des EU-Mittelwertes beträgt.
Besonders problematisch ist das krasse wirtschaftliche Gefälle in den unmittelbaren Grenzgebieten zu den Nachbarländern. Es dürfte nach der Osterweiterung für besonders große Reibungen sorgen, wenn nicht rechtzeitig regionalpolitisch gegengesteuert wird. Derzeit ist das wirtschaftliche Entwicklungsniveau auf der polnischen Seite von Oder und Neiße etwa halb so hoch wie in Mecklenburg-Vor pommern, Brandenburg und Sachsen. Die Grenzwojewodschaften zwischen Szczecin und Zgorcelec erreichen zwischen 33 und 36 Prozent, die drei ostdeutschen Bundesländer 71 Prozent des EU-Durchschnitts. In Kaufkraftstandards ausgedrückt beträgt das jährliche Pro-Kopf-BIP beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern 14289 in der Nachbarregion Zachodnopomorski hingegen nur 7116 KKS. Der EU-Durchschnitt liegt bei 20213.
Nicht ganz so drastisch ist das Gefälle an der sächsisch-tschechischen Grenze. Die angrenzenden Regionen Severovychod und Severozapad kommen auf jeweils 53 Prozent des EU-Durchschnitts. Während die jährliche Wertschöpfung pro Einwohner in Sachsen 14432 Kaufkrafteinheiten erreicht, liegt sie südlich von Erzgebirge und Vogtland bei 10643 bzw. 10683 KKS. Längs des Bayerischen Waldes wird die Kluft allerdings schon wieder deutlich größer. Immerhin zählt der Freistaat mit 123 Prozent des EU-Durchschnitts beim Pro-Kopf-BIP zu den höchstentwickelten EU-Regionen. Allerdings klaffen zwischen der grenznahen Oberpfalz (94 Prozent)
und Oberbayern (161 Prozent) Welten. Die Bundesrepublik insgesamt kommt auf 108, Tschechien auf 60 und Polen auf 36 Prozent des durchschnittlichen Wirtschaftsniveaus der EU. Diese Brüche sind zwar ein wichtiger, allerdings nicht der einzig relevante Ausgangspunkt für die Beurteilung der Osterweiterung und der damit verbundenen Probleme.
Ins Kalkül gezogen werden muss ebenso, dass beispielsweise die Wachstumsrate in Polen seit Mitte der 90er Jahre zwischen 4,1 und sieben Prozent lag - ein Mehrfaches über der deutschen. Wer heute von der »polnischen Wirtschaft« spricht, redet von einer der dynamischsten Volkswirtschaften Europas. Auch die Arbeitslosenquoten liegen in Mittel- und Osteuropa insgesamt nicht höher als in der EU und teilweise deutlich unter der deutschen. In den polnischen Grenzregionen sind sie erheblich niedriger als in Ostdeutschland. Dennoch birgt das krasse Wirtschaftsgefälle manchen politischen Sprengstoff, der mit Abschottungs-Taktiken - etwa der von Berlin und Wien gefor derten siebenjährigen Verweigerung der Freizügigkeit für polnische und tschechische Arbeitskräfte oder der Dienstleistungsfreiheit - kaum entschärft werden kann. Dringend notwendig wäre vielmehr die massive Förderung der grenzüber greifenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den unmittelbar benachbarten Regionen, deren Möglichkeiten bisher bei weitem nicht ausgeschöpft werden.
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