Lebenskeime aus dem All
Organische Moleküle aus kosmischen Staubkörnern könnten irdische Entwicklung ausgelöst haben
Von Rainer B. Langen
Die gängigste Theorie von der Entstehung des Lebens ist die von der Ursuppe: Mit Blitzen und energiereicher ultravioletter Strahlung hätten aus Methan und Ammoniak der frühen Erdatmosphäre Biomoleküle entstehen können - und daraus die ersten Lebewesen, die sich selbst vermehren konnten. Der amerikanische Chemiker Stanley Miller hat 1957 in Experimenten gezeigt, dass elektrische Entladungen und ultraviolette Strahlung tatsächlich Biomoleküle aus Methan, Ammoniak und Wasserdampfer zeugen können.
Es ist jedoch fraglich, ob es die Gase in der richtigen Mischung in der Atmosphäre der frühen Erde überhaupt gegeben hat. Außerdem hätten sich die Biomoleküle gleichmäßig im Ozean verteilt. Leben braucht aber starke Konzentrationsunter schiede zwischen verschiedenen Substanzen, damit es sich selbst organisieren kann. Außerdem müssen Ungleichgewichte erhalten werden, also die Neigung von Stoffen, sich in chemischen Reaktionen in andere Stoffe zu verwandeln.
Eine ganz andere Hypothese vertreten die Astronomen Jochen Kissel vom Max Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching und Franz Krueger, der in Darmstadt ein Ingenieurbüro betreibt. Sie haben nämlich im Staub von Kometen Substanzen entdeckt, aus denen die ersten Biomoleküle entstanden sein könnten.
Kissels und Kruegers Messgeräte befanden sich an Bord der Sonde «Giotto» und zweier sowjetischer Sonden, als 1986 der Komet Halley mit 80 Kilometern pro Sekunde an den Sonden vorbeisauste. Das hat gereicht, um die Zusammensetzung von Kometenstaubkörnchen über Massenspektrometer an Bord der Raumfahr zeuge zu untersuchen. Auch die amerikanische Sonde «Stardust», derzeit ebenfalls mit einem Staubeinschlags-Massenspektrometer des Garchinger Instituts an Bord unterwegs zum Kometen «Wild 2», liefert Daten über die Zusammensetzung von interstellarem Staub und erste Hinweise auf Moleküle, die ähnlich reaktionsfreudig sind wie jene, die im Staub des Halleyschen Kometen gefunden wurden.
In einem Staubkorn aus dem Weltall seien Tausende mineralischer Kerne zusammengebacken, die gefrorene Gase umgeben: Der Theorie eines niederländischen Kosmochemikers zufolge hat sich in Jahrmillionen, in denen Erhitzung und Abkühlung der Staubkörnchen abwechselten und energiereiche Strahlung auf sie einwirkte, die Zusammensetzung der Gase verändert. Organische Moleküle sollen entstanden sein.
Krueger und Kissel haben diese Annahme mit ihren Messungen bestätigt. Sie fanden im Staub des Halleyschen Kometen Moleküle, aus denen Biomoleküle entstehen können: Blausäure zum Beispiel. Aus fünf Molekülen Blausäure kann Adenin entstehen, ein Bestandteil der Erbsubstanz. Weiterhin fanden sie Nitrile, Azetylen, Formaldehyd und Phosphide. Der Kern enthält Minerale, die als Katalysatoren in Frage kommen. Ammoniak gibt es im Kosmos überall, Wasser auf der Er de. Mit diesen Zutaten könnten Stoffe aller Klassen entstanden sein, «die für die Biochemie von Lebewesen wichtig sind», wie die Wissenschaftler in «Spektrum der Wissenschaft» schrieben.
Müsste der Staub also nur ins Wasser fallen und schon könnte es mit dem Leben losgehen? Das wiederum ist unwahr scheinlich. «Der Schutt einer explodierten Apotheke umfasst sicherlich auch alle Biomoleküle», geben Krueger und Kissel zu bedenken, «kann aber trotzdem kein Ort der Urzeugung sein.» Für die chemischen Reaktionen des Lebens ist Triebkraft vonnöten und eine Hülle, die verhindert, dass die Moleküle voneinander wegschwimmen. Ohne die aber erginge es den Biomolekülen aus dem All genauso wie denen in der Theorie von der Ursuppe.
Die Hülle kann tatsächlich entstehen, wenn die Nitrile aus einem Staubkorn mit Wasser in Berührung kommen. Sie bilden dann nämlich Fettsäuren. Diese haben ein wasseranziehendes und ein wasserabstoßendes Ende. Im Wasser lagerten sie sich wie eine Hülle um das Staubkorn zusammen, mit dem wasserabstoßenden Ende nach außen.
Die Triebkraft für die ersten chemischen Prozesse des Lebens könnten die Biomoleküle aus dem Kometenstaub mitgebracht haben. Die Kometenmaterie enthält laut Kissel und Krueger zum großen Teil energiereiche, chemisch instabile Vorläufer der Biomoleküle, die erst beim Kontakt mit Wasser reagierten. Die Fettsäurehaut könnte bestimmte Stoffe, die für die chemischen Prozesse im Innern nötig sind, hereinlassen und Stoffwechselprodukte hinaus. Die Hülle aus Fettsäure ist halbdurchlässig. Zwischen der Innen- und Außenseite können Konzentrationsunterschiede und mit der eingebrachten Energie chemische Ungleichgewichte aufrechterhalten werden.
Damit wäre auch die Voraussetzung zur Selbstorganisation erfüllt. Damit sie auch funktioniert, müssen für die Reaktionen des Lebens alle Stoffe zur rechten Zeit am richtigen Ort sein. Ab einer bestimmten Größe zerfallen selbstorganisierte Systeme wieder in zwei kleinere. Sie vermehren sich. Krueger hat berechnet, wie groß ein Reaktionsraum mit Zutaten aus dem Kometenstaub sein dürfte, damit er sich als selbstorganisiertes System spontan teilt: Mit rund drei tausendstel Millimeter liegt das Ergebnis in der Größenordnung von Kometenstaubkörnern und sonstigem Staub im Weltall. Von der Größe her käme ein Kometenstaubkorn danach durchaus für ein selbstorganisierendes Teilchen, das sich vermehren kann, in Frage.
Ein drei Kilometer großer Komet besteht laut Kissel und Krueger aus einer Quadrilliarde Staubkörnchen (1027). Das ist eine Milliarde Milliarde Milliarden. Ein Tausendstel davon, also eine Million Milliarden Milliarden, könnte den Weg durch die Erdatmosphäre unbeschadet über standen und sich im Wasser mit einer Fetthülle umgeben haben. Forscher der University of California in Berkeley/USA haben gerade in Laborversuchen nachgewiesen, dass die Keime aus dem Weltall durchaus eine Chance hatten, heil auf unserem Planeten anzukommen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass aus Vor läufermolekülen tatsächlich funktionierende, Grundbausteine des Lebens entstehen können, schätzen Kissel und Krueger auf eins zu hundert Milliarden Milliarden (1020). Blieben von einem einzigen Kometeneinschlag 10 000 Staubkörnchen, aus denen lebende Systeme entstanden sein könnten.
Die ersten Spuren von Lebewesen sind 3,8 Milliarden Jahre alt. Als sie lebten, kalkulieren Krueger und Kissel, gab es auf der Erde seit 50 Millionen Jahren flüssiges Wasser. Einige Zehntausend Kometen seien in dieser Zeit auf die Erde gestürzt. Ausreichend Material und Zeit, um das Lebens entstehen zu lassen.
Wie das Leben auf der Erde wirklich entstanden ist, wird letztlich niemand genau erfahren. Es gibt keine Beweise, nur Indizien, auf denen Wissenschaftler Theorien aufbauen. Plausibel sollten sie sein, auf möglichst wenigen Voraussetzungen beruhen und mit Experimenten überprüfbar. Entsprechende Experimente zur Überprüfung der Kometenstaub-Theorie sind bereits in Zusammenarbeit mit dem Institut für Analytische Chemie der Universität Wien geplant.
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