»Ich werde weiter meinen Senf dazugeben«

Der scheidende NGG-Vorsitzende Franz-Josef Möllenberg über Mindestlohn und gewerkschaftliche Organisierung

  • Lesedauer: 6 Min.
Franz-Josef Möllenberg ist seit 21 Jahren Vorsitzender der NGG und damit der dienstälteste Vorsitzende einer DGB-Gewerkschaft. Der 60-jährige gelernte Bankkaufmann tritt am heutigen Dienstag von der Spitze der Gewerkschaft ab. Seine Zustimmung zu einer Großen Koalition macht er – seit 1970 SPD-Mitglied – von der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro abhängig. Die NGG hatte diesen als erste Gewerkschaft gefordert. Mit Möllenberg sprach nd-Redakteur Jörg Meyer.

nd: Herr Möllenberg, am Dienstag ist die Neuwahl zum NGG-Bundesvorsitzenden. Sie treten nach 21 Jahren an der Gewerkschaftsspitze nicht wieder an. Wie fühlen Sie sich?
Franz-Josef Möllenberg: Das ist ein ganz komisches Gefühl. Ich will es fast noch nicht wahrhaben. Als ich im März angekündigt habe, dass ich aufhöre, hatte ich ja gesagt, bis zum letzten Tag werde ich voll arbeiten. Und ich habe schon die ersten Termine für nach unserem Kongress. Ich mache also weiter, für die NGG und für unsere Mitglieder, aber dann eben nicht mehr als Vorsitzender. Aber ich bin schon ein bisschen wehmütig, daraus mache ich keinen Hehl, aber andererseits wird die Zeit danach auch spannend.

Was kommt denn danach?
Meine beiden Funktionen in den internationalen Gewerkschaften nehme ich weiter wahr. Ich bin Vizepräsident der IUF (International Union of Food Workers) und der EFFTA (Europäische Föderation der Lebensmittelgewerkschaften) und noch für ein beziehungsweise vier Jahre gewählt. Und da, wo ich gefragt werde, werde ich auch weiterhin meinen Senf dazugeben. Ich werde ja nicht von heute auf morgen unpolitisch. Ganz im Gegenteil.

NGG-Gewerkschaftstag

Am Montag begann der 16. ordentliche Gewerkschaftstag der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Alle fünf Jahre kommen die Delegierten zusammen. Zur Eröffnung am Montag hatten sich insgesamt 550 Gäste angekündigt, darunter der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, SPD-Chef Sigmar Gabriel und Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen. Bis zum Donnerstag wollen die 172 Delegierten über 163 Anträge entscheiden und damit über den Kurs der Gewerkschaft in den nächsten Jahren. Eine Vorläuferorganisation der NGG ist der 1865 Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-Verein. Damit ist sie die älteste deutsche Gewerkschaft. Die NGG vertritt rund 206 000 Beschäftigte unter anderem im Gastgewerbe, Backgewerbe, in der Getreide- und Fleischwirtschaft, in Milch verarbeitenden Betrieben, der Zigaretten- und Süßwarenindustrie und der Getränkewirtschaft. Auf dem Gewerkschaftstag in Berlin wird unter anderem der Hauptvorstand der Organisation komplett neu gewählt. Die bisherige NGG-Vize Michaela Rosenberger ist Möllenbergs designierte Nachfolgerin.

Das heißt arbeiten bis 65 oder bis 67?
Auf keinen Fall bis 67! Diese so genannte Rentenreform geht doch an der Realität vorbei. Nun habe ich bei allen Belastungen nicht die schlechten Arbeitsbedingungen, die beispielsweise eine Schichtarbeiterin oder ein Schichtarbeiter hat. Ich bin nicht in einem Produktionsbetrieb Umgebungseinflüssen wie Hitze, Lärm, Nässe, Kälte oder ausschließlich Kunstlicht statt Tageslicht ausgesetzt. Und trotzdem: Bis 65 muss reichen. Wir brauchen aber auch Altersübergangsregelungen, damit die Menschen in Altersteilzeit, Brückenrente, oder wie auch immer man das nennen will, gehen können. Auf dem Kongress werde ich noch einmal sagen, in Richtung von Politik und Arbeitgebern: Die haben ein Problem, was die demografische Entwicklung angeht. Wir als Gewerkschaften haben die Lösung.

Was wäre für Sie ein Fazit von 21 Jahren an der Gewerkschaftsspitze?
Schwer zu sagen. Was da ist und was es auch in Zukunft geben wird, ist der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Den kann man nicht verstecken. Wir haben eine schwierigere Situation als früher, weil manche Arbeitgeber Geschäftsmodelle gefunden haben, die ihnen die Flucht aus Tarifverträgen beispielsweise mit Leiharbeit oder mit Werkverträgen ermöglicht. Die Gewerkschaften haben Niederlagen erlitten, weil sie diesem Erfindungsreichtum relativ wenig entgegensetzen konnten.

Das klingt ernüchtert ...
Der Organisationsgrad ist in den letzten 20 Jahren zurückgegangen, obwohl wir in unseren historisch starken Branchen wie der Zigarettenindustrie, Süßwaren und Zucker oder der Brauindustrie nach wie vor handlungsfähig sind. Aber wir haben große Defizite bei den Schlachthöfen und Geflügelschlachtereien, im Hotel- und Gastgewerbe. Es gibt aber auch positive Entwicklungen. Wir hatten bei den erwerbstätigen Mitgliedern in den letzten Jahren einen Zuwachs und in diesem Jahr auch bei den absoluten Zahlen. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch: Die Menschen müssen sich gewerkschaftlich organisieren. Alleine zu glauben, dass der Gesetzgeber das für uns regelt, ist falsch.

Der Gesetzgeber?
Unsere Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn ist eine erfolgreiche Kampagne, die noch nicht am Ende ist. Wir haben das Ziel noch nicht ganz erreicht. Ich hoffe da auf die Große Koalition, wenn sie denn kommt. Aber es gehört auch hier zur Wahrheit: Der Mindestlohn ist ein Hilferuf, weil wir es aus eigener gewerkschaftlicher Kraft nicht gebacken kriegen.

Werden die Gewerkschaften denn jetzt von Tarifpartnern zu Mindestlohnkontrolleuren?
Nein. Wir gestalten ja die Tarifpolitik. Die NGG schließt seit zwölf Jahren Tarifverträge zur Altersversorgung mit verbindlichem Arbeitgeberanteil ab. Das ist eine Erfolgsgeschichte. Und wir haben den Schwerpunkt in der Tarifpolitik, dass wir für stark belastete Beschäftigtengruppen, Schichtarbeiter, ältere Beschäftigte, besondere Regelungen haben.
Dass sich die Arbeitgeberverbände im Zerfallsprozess befinden, ist aber ein Dilemma. Dass die Arbeitgeberverbände in ihren Satzungen so genannte OT-Mitgliedschaften aufgenommen haben, also ohne Tarifbindung, ist ein Dilemma und macht uns das Leben schwer. Es gilt also der Häuserkampf. Belegschaften müssen dann aber in der Lage und bereit sein, Haustarifverträge zu erkämpfen. Das klappt auch an vielen Stellen.
Aber anderenorts kommen wir überhaupt nicht weiter. In manchen Schlachthöfen haben wir 4500 Beschäftigte. Davon sind 500 Leute Stammbelegschaft, der Rest sind Werkvertragnehmer, oft Arbeiter aus Rumänien, und die kriege ich nicht organisiert. Da brauchen wir ein Bündnis unter Beteiligung von Parteien, Kirchen und Medien, die uns helfen, solche Missstände ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren.

Es geht aber nicht nur um die Arbeitsbedingungen?
Um es in Zahlen zu sagen: Vor zehn Jahren hatten wir einen Selbstversorgungsgrad bei Schweinefleisch von 80 Prozent. Das heißt 20 Prozent des Schweinefleisches sind importiert worden. Heute haben wir einen Selbstversorgungsgrad von fast 120 Prozent. Hört sich ja toll an, was für ein Zuwachs. Aber das basiert ausschließlich auf der Beschäftigung von rumänischen oder bulgarischen Werkvertragsnehmern. Außerdem werden durch die Export- und Lohnpolitik Deutschlands Jobs in Dänemark, in Frankreich vernichtet.

Werden Sie in den internationalen Organisationen gefragt, warum die deutschen Gewerkschafter das nicht geregelt bekommen?
Natürlich fragen die! Wir haben es bisher hinbekommen, die Situation hier zu erklären und um Verständnis zu bitten. Ich bin mit meinem dänischen Kollegen im letzten Jahr bei Ursula von der Leyen und beim zuständigen EU-Kommissar gewesen. Es hat sich etwas bewegt, und an der Stelle muss ich die Bundesarbeitsministerin ausdrücklich loben. Sie ist zu einzelnen Unternehmern gegangen und hat denen gesagt: »Leute, das geht so nicht weiter.«

Das hat aber noch nicht zu Herzerweichung bei den Unternehmern geführt, wenn ich mir die erste Verhandlungsrunde in der Fleischindustrie angucke.
Das stimmt. Wir haben uns auf den 17. Dezember vertragt. Die Unternehmer der Fleischwirtschaft haben gesagt: In Westdeutschland können wir gerne 8,50 Mindestlohn zahlen, kein Problem, und Frau von der Leyen hat signalisiert, dass das dann auch ein Branchenmindestlohn nach dem Entsendegesetz wird. Aber wir haben das nicht akzeptieren können.

Warum?
Die haben uns angeboten, dass es im Osten vier Steigerungsstufen gibt, bis man bei den 8,50 Euro ankommt. Und solange Ostdeutschland nicht auf 8,50 Euro ist, würde Westdeutschland nicht angehoben, also bei 8,50 stehenbleiben. Das geht auch persönlich unter die Haut. Es gibt für den Unterschied keinen Grund. Die Produktivität ist in ganz Deutschland gleich. Die Produkte, die hergestellt werden, werden ja auch nicht nur in den ostdeutschen Bundesländern verkauft, sondern bundesweit und darüber hinaus. Da kann mir doch keiner erzählen, dass eine gleiche Bezahlung in ganz Deutschland nicht machbar wäre.

Sie sind seit Jahrzehnten SPD-Mitglied. Glauben Sie an den Politikwechsel mit einer Großen Koalition?
Dazu sage ich nichts, bevor es nicht ein Ergebnis gibt. Aber ich gucke mir das sehr genau an. Und eines kann ich Ihnen sagen: Bei der Mitgliederbefragung über ein mögliches Koalitionsergebnis werde ich nicht nur meine Stimme abgeben, sondern sie auch erheben – auch wenn ich dann nicht mehr Gewerkschaftsvorsitzender bin.

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