Kennst du mich? Scann mich!

»In der Republik des Glücks« von Martin Crimp an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Du willst zur Menschheit gehören, natürlich. Also musst du der sein, der am meisten verschweigt. Die Wahrheit nämlich. Was du über Welt und Menschen denkst - es muss in dir gehortet werden wie ein Reichtum. Du spürst diese Verschwiegenheit wie eine Kraft, die dich zugehörig macht zur geltenden Sittlichkeit. Du weißt aus Erfahrung: Nichts darf deutlich werden von dem, was du an deinem Leben unerträglich findest. Schon beim geringsten Herumgeistern der Idee, unverstellt auf die Welt zu reagieren, wirst du seemännisch pur: Schotten dicht! Dermatologisch gesprochen: Poren dicht! Aber die Kraft der Verschwiegenheit ist zugleich eine Gefahr. Angst wächst, du könntest diese Verschwiegenheit nicht mehr zurückhalten, es könnte alles aus dir herausstürzen. Der Hass, bislang sorgsam eingesperrt. Die Verachtung, so lange mühsam unterdrückt. Der Ekel, lebenslang verborgen hinter den Freundlichkeiten des Verkehrs miteinander. Die ganze Wahrheit: Ich-Problem, die Ehe-Krise, die Eltern-Pflegescheiße, der Geschwister-Komplex, die Kinder-Last, die Kollegen-Öde, die Geld-Sorge, das Toleranz-Gequatsche, die brennende Harnröhre, die beginnende Unzurechnungsfähigkeit, das Verwitterungsproblem, Mensch!, guck dich beginnende Ruine doch im Spiegel an!

»In der Republik des Glücks« heißt das Stück des Briten Martin Crimp, an den Kammerspielen des Deutschen Theaters inszeniert von Rafael Sanchez. Ein Weihnachtsabend in Familie. Der Lichterbaum eine mittelgroße graue Installation, als hätte man die Umrisse einer Tanne aus Knete modelliert. Hinten ein großer Fernsehschirm mit unablässiger Gebirgs-Schneefall-Wiederholungsschleife (Bühne: Janina Audick). Das erste Wort, der erste Ton der schwangeren Debbie: Es ist der bestimmende Grundton des Abends - ein greller Schrei zwischen letzter aggressiver Selbstverteidigung und militanter Beschimpfung. So geht das jetzt eine ganze Stunde lang: Von den Großeltern die Generationen abwärts, dazu ein Onkel mit Frau - hemmungsloses, penetrantes, selbstbezogenes, wegstoßendes Brüllen, Keifen, Giften. Da ist es also passiert: Der Damm brach, die Verschwiegenheit, die alles zusammenhielt, stürzt aus den acht Menschen heraus.

Was einst als Tschechow begann und noch eine wirkliche Kollision der Lebensvorstellungen war, es endet hier, im Zeitalter des unsäglichen Terrors der öffentlichen Intimität. Familie als Fortsetzung der großvernetzten allwaltenden Obszönität, also einer von Flüssigwortschlamm durchströmten Community- und Facebook-Kanalisation. Nichts bedeutet etwas, aber alles kommt zur Sprache. Meint, wer was sagt, genau das, was er denkt? Egal. Rotzen, kotzen, motzen. Ein heruntergekommener Strindberg? Oder ein hochgepuschtes RTL-Talk-Muster? Alle sind isolierte Kometen im Selbsthass-Schweif, dessen Stickmasse anderen die Luft nimmt. Jeder hört jeden, aber keiner nimmt den anderen wirklich wahr.

Pause. Spürbar, wie's im Publikum würgt, wankt: gehen oder bleiben? Erbarmenswürdige gute Spieler - zu erleben mitten in einem, ja: Berufsunglück? Dann neues Bühnenbild. Runde Sitzgruppe. Auf dem Bildschirm Netzwerk- und Werbefetzen. Jetzt ist alles »Familiäre« aufgehoben im Chor anonymer Stimmen - als sei Handkes »Publikumsbeschimpfung« ins Kommunikationsstammeln der Moderne überführt worden. Wortschleifen, Kaskaden, Sprechgesang. Margit Bendokat: »Ich mache gern die Beine breit« - am Flughafen, bei der Sicherheitskontrolle. Das Stichwort für diese zweite Aufführungsstunde. Leben in Fesseln totaler Fremdsteuerung: Druck und Kontrolle - dies aber befeuert von schwachsinnigsten Ideologien: der Freiheit, »ein furchtbares Trauma zu erleiden«, oder »gut auszusehen und ewig zu leben«. Und da ist die große Lust, Menschen zu markieren und auf die Löschtaste zu drücken. Das Innen online, das Außen verinnerlicht, das heißt hauptsächlich: Fick mich!, Scann mich!

Plötzlich spürbar: Stück und Aufführung beißen. Jetzt sickert sie ein, die Peinigung. Vorführung einer Kultur, die uns klammert, ob wir uns abwenden oder nicht. Einmal stehen die ganz Alten, Margit Bendokat und Christian Grashof, dicht beieinander und schreien ihre Hilflosigkeit hinaus, ein letztes Bindungsflehen, ja, erneut: Scann mich! Die Bendokat elegisch vernölt, Grashof plusternd geladen wie ein Pfeifkessel.

Als mittleres Ehepaar: Judith Hofmann: traurig ins Kalte ergeben, Michael Goldberg mit rührender Lust darauf, nicht in dieser Wohnung, sondern lieber leger in einem französischen Chanson zu leiden. Natalia Belitski und Lisa Hrdina legen die Lunte des jugendlich schon sehr reifen Zynismus und der früh hysterischen Verlustängste. Franziska Machens liefert lachend und singend und hochhackig posierend allen Glanz der faden schönen Oberfläche, mit ihrem Mann fliegt sie weit weg in ein neues Leben, wie wird es sein? »Wie eine Glasscheibe. Hart. Klar. Scharf. Sauber.« Peter Moltzen als dieser Gatte (er ist der Onkel der Familie): ein brillant dezenter Komiker des fadenlosen Marionettenschicksals, ein Slapsticker der tänzerisch zerwischten Unsicherheit.

Der Abend steigert sich zum bedrängenden Frageangebot: Ist so tatsächlich unser Leben? Nein! Nie! Nein? Auch du mündest doch täglich ein in etwas, was du ablehnst. Straff dich, so viel du willst, du bleibst ein Stück zerknüllter Lebensplan. Macht nichts, tänzelt uns Moltzen entgegen: Wir summen den »Happy, happy, happy«-Song! All together now!

Nächste Vorstellungen: 10., 23. 12.

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