Verrat oder nationales Interesse

Die Ukraine sollte nicht zwischen den neuen Blöcken wählen müssen

  • Kai Ehlers
  • Lesedauer: 3 Min.
Weder eine einseitige Orientierung auf Russland, noch eine einseitige auf den Westen können eine zukunftstragende Lösung für die Ukraine sein.

Aufruhr in der Ukraine. Rufe nach Fortsetzung der »orangenen Revolution« von 2004. Julia Timoschenko, inhaftierte Galionsfigur der ukrainischen Opposition schrieb aus der Haft einen Brief an den Präsidenten. Darin wirft sie ihm vor, mit »Neutralität zwischen EU und Russland« das Assoziierungsabkommen zu zerstören. Der Preis dafür werde der »Verrat der nationalen Interessen der Ukraine« sein. Sie erteilt dem Präsidenten einen Rat: » Unterzeichnen Sie ein Abkommen und die westliche Welt wird Ihnen alles geben.« Für die ganze demokratische Welt werde es eine Ehrensache, die ukrainische Gesellschaft in der europäischen Entwicklungsrichtung nicht zu enttäuschen. Der »zweite Rat« ähnelt dem ersten allzu sehr: »Wenn sie die finanzielle, geistige und politische Unterstützung der ganzen Welt wollen, unterzeichnen Sie den Vertrag ohne demütigende und ungeschickte Versteigerung. Sie bekommen alles ohne Zweifel und Zögern.«

In zigtausendfacher Variation war dieser Tenor, unterfüttert mit Forderungen nach Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes, während des Straßenprotestes zu hören. Aber muss man erst Wikipedia bemühen, um die Geschichte der Ukraine als die eines gespaltenen Landes zu erkennen? Muss man erst an den US-Strategen Zbigniew Brzezinski erinnern, der die Ukraine zum Dreh- und Angelpunkt erklärte, von dem aus Russland auf dem eurasischen Kontinent kleingehalten werden könne und müsse?

Muss man schließlich erst an den Georgienkrieg von 2008 erinnern, bis zu dem die NATO- und EU Erweiterungsrunden eskalierten, wo sie dann strandeten? Muss man erst die Konkurrenz beschreiben, die sich seitdem zwischen Europäischer Union und der entstehenden Eurasischen Union entwickelt? Muss man aufzeigen, dass nicht nur Russland Druck auf die Ukraine ausübt, sondern die Europäische Union nicht minder?

Russland ließ durch nadelstichartige Handelsbeschränkungen erkennen, was geschehen könnte, wenn die Ukraine sich einseitig für die Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone entschiede. Die Europäische Union bestand ihrerseits darauf, dass die Ukraine sich zwischen der eurasischen und der europäischen Zollunion entscheiden müsse.

Auch die in das Assoziationsabkommen eingeschlossenen Bedingungen des IWF, nach denen die Ukraine u. a. ihre kommunalen Strukturen kapitalisieren müsse sowie die Koppelung der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens seitens der EU an die Haftentlassung Julia Timoschenkos gehören in diese Kataloge des Drucks, der auf die Ukraine ausgeübt wurde.

Das alles hilft zu verstehen, warum die Ukraine seit sie 1991 die Sowjetunion verlassen hat, keine neutrale Politik betreiben konnte, die ihrer Lage zwischen den entstehenden Regionalmächten Russland, Europäische Union und Türkisch-kleinasiatischem Raum entspräche - oder sich eindeutig einer der Mächte anzuschließen. Von Selbstbestimmung jedenfalls keine Spur! Um so empfänglicher ist natürlich die Ukrainische Bevölkerung, ihr Leben und ihre Zukunft selbst bestimmen zu können!

Der Vorwurf des »Verrats nationaler Interessen« ist in der heutigen Ukraine nichts anderes als eine Luftblase, wenn nicht gar Demagogie, mit der wirtschaftliche oder sonstige Sonderinteressen dieser oder jener Oligarchenclique oder Seilschaft verschleiert werden. Die Masse der Bevölkerung hat andere Sorgen, z. B. visafreien Verkehr, um im Ausland Arbeit zu finden. Das macht das Assoziierungsabkommen mit der EU natürlich attraktiv, aber auch den freien Zugang zu Russland.

Das einzige »nationale« Interesse, das der Geschichte und der heutigen Situation des Landes entspräche, bestünde in der Erkenntnis, dass es dieses »nationale« Interesse nicht gibt. Dagegen gibt es den dringenden Bedarf eines innenpolitischen und ins Außenpolitische reichenden Konsenses zwischen den unterschiedlichen weltanschaulichen, wirtschaftlichen und kulturellen Teilen der Bevölkerung - wenn die Ukraine nicht zum permanenten Kampfplatz oder gar zum Schlachtfeld zwischen den sich seit dem Ende der Sowjetunion neu formierenden Blöcken werden soll.

Als kontraproduktiv hat sich die Forderung an die Ukraine erwiesen, zwischen der europäischen oder der eurasischen Zollunion zu entscheiden. Ein solches Entweder-oder kann die Ukraine allenfalls spalten. Mit tödlicher Sicherheit würde eine solche Entwicklung unter heutigen Bedingungen jedoch eine deutliche Blutspur hinter sich herziehen.

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