Technokraten ohne Ziel, Partei ohne Lagerfeuer
Stephan Klecha über die Führungskrise der SPD und dem fehlenden Überschuss der Sozialdemokratie
Es ist ein zähes Ringen, das die sozialdemokratische Führungsriege gegenwärtig mit ihrer Parteibasis veranstaltet. Auf Regionalkonferenzen, in E-Mails, Briefen, Interviews und mittels aller möglichen weiteren Kommunikationskanäle sendet sie die Botschaft, dass man in den Koalitionsverhandlungen mit der Union ja einiges erreicht habe, weswegen man nicht umhin komme, dem Koalitionsvertrag zuzustimmen. Dabei kann man zurzeit eine Partei erleben, die so munter und so lebendig wie seit Jahren nicht mehr ist: Ob in den Regionalkonferenzen, Arbeitsgemeinschaften, Ortsvereinen oder sozialen Netzwerken, überall agieren Sozialdemokraten, die für Ja oder Nein werben, die ausgehandelten Kompromisse sezieren, das Verhandlungsergebnis loben, Mängel im Vertrag anprangern oder einfach ihre grundlegende Ablehnung einer Koalition mit der Merkel-CDU kundtun wollen.
Positiv formuliert, erlebt man gegenwärtig also eine Partei, die keineswegs niedergeschlagen ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis in der Geschichte der Bundestagswahlen analysiert oder sich selbst bemitleidet, sondern die wirkt, als ob sie die Wahl gewonnen, lediglich die absolute Mehrheit knapp verpasst hätte und die sich jetzt eben irgendwie mit einem ungeliebten Koalitionspartner arrangieren muss, den sie nichtsdestotrotz über den Tisch gezogen hat, zumindest teilweise. Überdies loben die Parteispitzen in seltener Eintracht ihr Wahlprogramm, was zur Seelenlage der SPD passt, die inhaltlich mit sich im Reinen zu sein scheint. Das drohende Mitgliedervotum hat dabei ganz vortrefflich als Druckmittel gewirkt, um die Union bei einigen Kernforderungen der SPD gefügig zu machen. Kurzum: Es scheint, als hätte die SPD nochmals mit der ganzen Kraft der Arbeiterbewegung die Union förmlich zu Boden gerungen. Und die Parteimitgliedschaft nimmt nun den Ball auf, den ihr die Parteiführung zugespielt hat.
Aus all dem kann man dieser Tage einige Hoffnung ziehen, weil es eine Volkspartei belebt und weil genau das der Demokratie gut tut. Es kann der SPD gar nicht hoch genug angerechnet werden, dass sie die Souveränität einer Partei gegen all die Antiparteienreflexe verteidigt, die im Staatsrecht oder in den Redaktionsstuben fröhlich rauf und runter dekliniert werden. Jawohl, in einer Parteiendemokratie haben die Mitglieder der Parteien einen besonderen Zugang zur Macht und eine besondere Verantwortung für die Verbindung von Volk und Repräsentanz.
Doch es gibt auch Schatten, die eher im innerparteilichen Zustand der SPD zu finden sind. Hinter dem Mitgliedervotum steckt nämlich eine langwierige Führungskrise der Sozialdemokraten. Natürlich gibt es in der SPD eine grundlegende Abneigung gegen ein Bündnis mit der Union, die wenig mit dem Koalitionsvertrag und auch wenig mit den Erfahrungen der letzten Großen Koalition zu tun hat. Doch diese Ablehnung ist nicht stark genug, um eine Koalition, gar eine auf Bundesebene zu verhindern; sie hätte auch nicht zu den massenhaft im Vorfeld der Verhandlungen getroffenen ablehnenden Beschlüssen von Ortsvereinen oder Kreisverbänden der SPD geführt. Diese Reaktionen basieren vielmehr auf einem verbreiteten Misstrauen, das die viel beschworene Parteibasis ihrer Führung in Berlin entgegenbringt.
Einst genossen die Parteiführer der SPD höchste Anerkennung. Bebel oder Brandt wurden regelrecht verehrt. Ebert, Ollenhauer oder Vogel erfuhren zumindest höchste Wertschätzung. Davon ist nicht mehr allzu viel übrig. Das Amt des Parteivorsitzenden mochte Franz Müntefering noch als das schönste »neben Papst« bezeichnen, es hat in all den letzten Jahren jedoch erheblich gelitten. Die Vorsitzenden wechselten munter und konnten sich überdies ihrerseits wirklich nie sicher sein, ob sie die SPD in Gänze vertraten bzw. was ihre Macht eigentlich wert war.
Die Partikularisierung der SPD hat ihre Ursachen weniger in inhaltlichen Entwicklungen, gar in einer Ausdifferenzierung der Parteiflügel, die reichlich matt daherkommen. Vielmehr hat es einige strukturelle Veränderungen gegeben, die aus der Entwicklung der SPD nach 1990 resultieren: In den 1990er Jahren hatte sich die SPD zunächst im Lichte ihrer zahlreichen landespolitischen Erfolge erheblich föderalisiert. Erstmals in der Geschichte der Partei waren die Kraftzentren nunmehr die Staatskanzleien in den Ländern. Dadurch wuchsen aber die Fliehkräfte in der Parteiführung. Engholm ist daran gescheitert, Scharping deswegen gestürzt, Lafontaine hielt die Balance nur bis zur Regierungsübernahme 1998.
Auf die Föderalisierung folgte dann ein Zentralisierungsprozess, der infolge der dramatischen Niederlagen bei den Landtagswahlen nach 1998 zwar die Macht der Staatskanzleien wieder brach, zugleich aber Folgen für die Verankerung der Partei hatte. Mit weniger Geld aus der staatlichen Parteienfinanzierung und weniger legislativer Repräsentanz schloss die SPD Büros in der Fläche und hatte fortan weniger Positionen, Posten und Funktionen anzubieten, mit denen neue Parteikader herangezogen werden konnten bzw. über die in die Gesellschaft hineingewirkt werden konnte. Dadurch verlor die Partei nicht nur etliche Mitglieder, sie gewann vor allem kaum neue hinzu. Weil sich aber gleichzeitig die SPD 2002 und 2005 bei den Bundestagswahlen behauptete, in Regierungsverantwortung blieb, stieg im Gegenzug die Bedeutung der exekutiven Funktionen auf Bundesebene. Dadurch verlagerte sich die innerparteiliche Macht in die Regierungsämter, bestenfalls noch in die Bundestagsfraktion, nicht jedoch in die Parteizentrale. Die Generalsekretäre Olaf Scholz und Klaus-Uwe Benneter als Generalsekretäre sowie der Parteivorsitzende Kurt Beck bekamen damals die Folgen dieser Entwicklung zu spüren.
Das Regierungshandeln erwies sich gleichwohl nicht als Kraftzentrum der Partei, konnte es auch keineswegs. Denn hierdurch waren die Sozialdemokraten verwoben mit dem Verwaltungsapparat, hatten mit den Zwängen der europäischen Integration und der globalen Finanzmärkte zu kämpfen und mussten sich obendrein mit den zahlreichen Vetospielern arrangieren. Regierungen müssen so etwas ausbalancieren und Konsense organisieren können. Im bundesdeutschen Regierungssystem sind sie zu Kompromissen geradezu verdammt. Für die politische Kultur im Land hat das durchaus eine pazifizierende Wirkung. Doch für die politische Kultur einer Partei wie der SPD war das lähmend. Der utopische Überschuss wurde eingehegt. Die Zielperspektive des politischen Handelns geriet in Anbetracht all der detaillierten, kleinteiligen Reformvorhaben aus dem Blick.
Doch genau danach sehnt sich eine Partei wie die SPD. Das Lagerfeuer einer großen Erzählung wärmt die Herzen der Parteimitglieder, ganz gleich wie düster die Realität draußen auch sein mag. Diese Wärme vermisst auch ein nicht unwesentlicher Teil ihrer einstigen Wählerschaft. Nur: Von der Führungsriege der Partei vermochte kaum einer sie auszustrahlen. Steinmeier, Steinbrück, Oppermann, Scholz, mit Abstrichen auch schon Schröder waren bzw. sind Technokraten der Macht. Solche Personen braucht man im Regierungsgeschäft zweifelsohne. Sie können auch die Anerkennung der Partei genießen, siehe Helmut Schmidt. Doch sie brauchen Personen an ihrer Seite, die intellektuell und habituell den Bogen spannen können, von den Notwendigkeiten der Macht zu den Sehnsüchten der Utopie. Daran hat es in den vergangenen Jahrzehnten gefehlt. Und so führten die Männer an der Spitze der Partei sie erst in die Agenda 2010, dann in die Rente mit 67 und nun wieder aus all dem irgendwie heraus, dafür in eine grundsätzlich ungeliebte Koalition hinein. Nur wozu? Wohin? Mit welchem langfristigen Ziel?
Das sind die Fragen, die hinter der Bewertung des Koalitionsvertrags liegen, die jenseits der Regierungswilligkeit eine zentrale Rolle spielen. Wenn der heutige SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel den Mitgliederentscheid als eine Frage der Regierungsfähigkeit der Partei für die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre bewertet, hat er durchaus recht. Doch ausschlaggebend für die Zukunftsfähigkeit der SPD ist nicht, ob und wie sie in die Große Koalition geht, sondern welche Perspektive sie darüber hinaus entwickelt, jenseits einer Regierungsbeteiligung im Bund und jenseits der Mitwirkung in immerhin 13 Landesregierungen. Viel wird also davon abhängen, wie die Impulse aus den laufenden Debatten in der Partei und die Öffnung der Partei im Wahlkampf in den folgenden Jahren verarbeitet werden.
Dr. Stephan Klecha arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sein Text erschien zuerst im Blog des Instituts. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Zwischen digitalem Aufbruch und analogem Absturz. Die Piratenpartei« (2013, gemeinsam mit Alexander Hensel).
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