Blindwütig gegen die »Anderen«

In Indien schüren Spalterkräfte Konflikte zwischen Religions- und Kastengruppen

  • Hilmar König
  • Lesedauer: 6 Min.

Dichter Nebel liegt über Muzaffarnagar, der Stadt im indischen Unionsstaat Uttar Pradesh, die seit September immer wieder Schlagzeilen liefert. Der Winter hat Einzug gehalten - auch im Flüchtlingslager Bassi Kalan. 3,7 Grad zeigt das Thermometer. Vor den vier Quadratmeter Fläche bietenden Zelten hocken fröstelnd Menschen. Sie drängen sich um die von Pappe, Sperrholz und dünnen Ästen genährten Feuer. Im Topf, der auf einem kleinen Lehmofen steht, brodelt Teewasser. Kinder husten. Babys greinen. Ein Alter nuckelt an seiner Hooka, einer Wasserpfeife. So gespenstisch der Nebel, so düster die Stimmung ringsum.

»Wir leben als Flüchtlinge im eigenen Land«, murrt der 70-jährige Jarifan aus der Ortschaft Kutba-Kutbi und fährt fort: »Wir wurden aus unseren Häusern vertrieben, mussten alle Habe zurücklassen und hausen nun in diesen Zelten. Wir können nicht zurück, fürchten um unser Leben. Nur die Hälfte der Leute hier hat etwas Unterstützung erhalten, Decken oder Wolltücher. Drei Monate nach Ausbruch der Tumulte versuchen wir, irgendwie zu überleben.«

Tumulte? Was geschah im September? Genau weiß das niemand. Angeblich wurde das Mädchen Madhu aus der Hindu-Bauernkaste der Jats von zwei muslimischen Jungen nach Schulschluss geneckt. Madhus Cousin und dessen Freund schritten ein, »um die Ehre der Familie zu retten«. Es gab eine Schlägerei. Ein Auflauf entstand. Immer mehr Menschen schlugen plötzlich aufeinander ein. Nachbarn, die am Morgen noch miteinander Tee getrunken und ausgiebig geplaudert hatten, gingen aufeinander los.

Madhus Cousin und dessen Freund wurden getötet, Dutzende Menschen verletzt. Dann kam das Gerücht auf, die zwei Muslimburschen hätten das Hindumädchen vergewaltigt. Prompt zogen tagelang marodierende Trupps aufgebrachter, von Feindschaft und Hass auf die »Anderen« beseelter Berserker durch 150 Dörfer in diesem Landstrich. Blindwütig vergewaltigten sie, plünderten, töteten, zündeten Häuser an und vertrieben die Einwohner. Fanatische Hindu-Nationalisten stachelten den Mob an, indem sie gefälschte Videos in Umlauf brachten, die »Verbrechen« der Muslime dokumentieren sollten. Die Polizei vermochte nicht, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Oder wollte es nicht. Am Ende der Tumulte waren 65 Menschen getötet und über 40 000 vertrieben worden. Viele wurden als vermisst gemeldet.

Ein großes Problem in den Lagern ist die Gesundheit der Kinder. Shehzad schläft mit dem zwei Monate alten, fiebernden Baby und seiner Frau auf einer Strohmatte. Eine Decke muss für alle drei reichen. Shehzad hofft nur, dass der Kleine wieder gesundet. Der Höchste Gerichtshof Indiens schaltete sich dieser Tage ein, nachdem in den Medien über mehr als 50 Kinder berichtet wurde, die in den Flüchtlingslagern seit Winterbeginn an Lungenentzündung und Schwäche gestorben sind. Die Richter wiesen die Regierung von Uttar Pradesh an, für Medikamente, gesundheitliche Betreuung, Brennholz und andere Hilfsgüter für alle Flüchtlinge zu sorgen und deren Unterbringung in festen Gebäuden zu organisieren.

Oberflächlich hat sich die Lage beruhigt. Doch Misstrauen, Rachegefühle, Feindschaft und Unsicherheit sind geblieben. Bis Mitte Dezember verheirateten panische Lagerbewohner bei muslimischen Massenhochzeiten 600 meist noch minderjährige Mädchen. Sie wähnen sie in der Obhut eines Mannes nun in Sicherheit.

Madhu geht in die 11. Klasse und möchte aufs College. Sie traut sich aber nicht mehr, mit dem Rad zur Schule zu fahren. Sie müsste durch Muslimgebiet und fürchtet, wieder zur Zielscheibe zu werden. Ein paar Kilometer weiter ist Nimmo in einem Flüchtlingslager in ähnlicher Lage. Sie geht in die 9. Klasse. Aber in der Notunterkunft gibt es keinen Unterricht. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Meine Eltern wagen sich nicht zurück in unser Dorf«, klagt das Mädchen. Dort geben Jats den Ton an.

Der Tagelöhner Naushad Khan sagt, am wichtigsten sei jetzt die Sicherheit seiner beiden Töchter und der Ehefrau: »Mein Haus wurde abgefackelt. Wer denkt unter diesen Umständen daran, seine Kinder zur Schule zu schicken?« Irfan und sein Bruder Nadeem sehen in dieser Gegend keine Perspektive mehr. Sie wollen sich einen Job in Delhi - nur 125 Kilometer entfernt - suchen.

Frauen haben sich in Milizen organisiert und bewaffnet, um sich und die Kinder zu schützen. Nach Ansicht der Sozialaktivistin Manju Bharti ist das nicht nur eine Frage der Sicherheit. Es belegt auch, wie erfolgreich Spalter, die religiöse Gefühle für politische Zwecke missbrauchen und ausschlachten, auch in diesem Fall in die Gesellschaft eingedrungen sind. Der »soziale Riss«, der auch Frauen betreffe, werde über Generationen Bestand haben, glaubt Manju Barthi. Und ihr Kollege Shandar Gufran pflichtet ihr bei: »Die Distanz zwischen Muslimen und Jats wird größer, weil die sozialen Kontakte abreißen. Die Jat-Grundbesitzer, die einen beträchtlichen Teil des Rohstoffs für die indische Zuckerproduktion liefern, werden kaum noch Landarbeiter finden, von denen die meisten Muslime sind. Die wiederum werden es schwer haben, mit anderen Jobs den Lebensunterhalt für ihre großen Familien zu sichern. Die wirklichen Folgen der Tumulte werden erst nach Jahren sichtbar.«

Auf gesellschaftliche Isolierung und Trennung der Minderheit zielt die Politik der Fundamentalisten in der Indischen Volkspartei (BJP). Ihre beiden Abgeordneten im Parlament von Uttar Pradesh, Sangeet Som und Suresh Rana, haben mit Gerüchten und gefälschten Videos Öl ins Feuer des Hasses gegossen. Sie wurden angeklagt, sind jedoch auf Kaution frei und wurden im Dezember bei einer Massenveranstaltung in Agra von der Parteiführung für ihr »Engagement« geehrt. Wenig später trat dort Narendra Modi auf, Chefminister des Unionsstaates Gujarat, Kandidat der BJP für das Amt des indischen Premierministers bei den Parlamentswahlen im April und Mai 2014. Modi ist ein eingefleischter Kader des Hindu-Freiwilligenverbandes RSS, der Muslime am liebsten »hinduisieren« möchte, bevor sie als vollwertige Staatsbürger anerkannt werden. Modi spielte 2002 bei einem Pogrom in Gujarat, bei dem einige tausend Muslime und etliche hundert Hindus massakriert wurden, eine unrühmliche Rolle. Er schaute weg und ließ Mörder und Brandstifter gewähren.

Die Muzaffarnagar-Tumulte sind ein weiteres düsteres Kapitel jüngerer indischer Geschichte, die geprägt ist von Diskriminierung, von extremistisch geschürter Gewalt zwischen religiösen Gruppen und Kasten, von ideologischer Verblendung. Hintergrund sind soziale und wirtschaftliche Unterschiede, Ungleichheit und Unrecht. Das Gewebe der nationalen Einheit ist fadenscheinig und brüchig. Ob der Anlass geringfügig oder schwerwiegend ist, tiefes Misstrauen bricht sich plötzlich und explosionsartig in blutigen Tumulten Bahn.

Beispiele nur: 1984 nach der Ermordung Indira Gandhis durch ihre beiden Sikh-Leibwächter kam es zur landesweiten Jagd auf Sikhs. Allein in Delhi sollen mehr als 2700 Angehörige der Minderheit umgebracht worden sein.

1992 nach der Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya durch militante Hindugruppen starben bei Auseinandersetzungen und Sprengstoffanschlägen in Mumbai, Delhi und anderen Städten über 2000 Menschen.

2002 verbrannten in einem Zug auf dem Bahnhof Godhra 58 Hindu-Pilger. Das Feuer legten angeblich Muslime. Dem folgte das Gujarat-Pogrom.

2007 explodierten Bomben im Samjhauta-Express zwischen Delhi und dem pakistanischen Lahore. 68 Tote waren zu beklagen. Täter waren militante Hindus.

Mumbai erlebte im November 2008 schlimme Tage, als aus Pakistan eingeschleuste und offensichtlich von Kollaborateuren in Indien unterstützte Terroristen das Leben von 168 Menschen auslöschten. Alle diese Vorfälle - und Muzaffarnagar - mahnen

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