Der Zorn des Lammes
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt». Im Matthäus-Evangelium reagiert Jesus nach vierzigtägigem Fasten in der Wüste mit dieser Antwort auf die Versuchung des Teufels, der ihn dazu aufforderte, seine Macht über die Dinge einzusetzen und Steine in Brot zu verwandeln.
Der Mensch sucht Halt in unverrückbaren Gewissheiten, die die Zeiten überdauern und helfen, den Zustand der Welt zu ertragen. Das Wort steht über der bloßen Erfüllung materieller Bedürfnisse. Jesus ist schon hier der unerschrockene Idealist, einer, dem die Moral wichtiger ist als das Fressen. Es ist der Jesus der Hollywood-Filme, der Übermensch, der trotz Hungers der Versuchung widersteht, stets die Kontrolle über sich hat. Ein Wesen, nicht von dieser Welt, ganz im Alttestamentarischen zurückgeblieben. Das Fleisch ist schwach, doch der Geist ist willig!
Die Bibel ist voll von solchen Allegorien. Das Faszinierende an ihnen ist: Sie weisen immer auf uns selbst zurück. Auf die Frage, was oder wer ist Gott, folgt durch Pontius Pilatus die Antwort: «Ecce homo» - «Siehe, der Mensch». Darin liegt schon das Kantsche Versprechen: der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
In der Offenbarung des Johannes, jenes erschreckend realistischen Szenarios der Weltendzeit, heißt es. «Und ich sah, daß es das sechste Siegel auftat, und siehe, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut; und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, gleichwie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von großem Wind bewegt wird. (...) Und die Könige auf Erden und die Großen und die Reichen und die Hauptleute und die Gewaltigen und alle Knechte und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallt über uns und verbergt uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! Denn es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?»
Erschreckend sind die Apokalyptischen Reiter, weil sie den Preis der menschlichen Mündigkeit beschreiben: die Trennung des Menschlichen in Hass und Liebe. Der Mensch Jesu wird in der Offenbarung des Johannes zum zornigen, Unheil bringenden Lamm.
Über dem Hass und der Liebe aber steht das Gesetz, und das ist wiederum tröstlich. Die Bibel berichtet vom Propheten Daniel, der in babylonischer Gefangenschaft zum treuen Berater des Herrschers Darius wurde und dadurch den Hass des übrigen Hofstaates auf sich zog. Die Neider drängten den König dazu, ein Gesetz zu erlassen, das die Anbetung von Göttern außer ihm bei Androhung der Todesstrafe untersagte. Daniel verstieß gegen dieses Verbot und sollte bestraft werden, obwohl Darius die Motive seines Hofstaates durchschaute.
Der Preis, den Darius für diese Gesetzestreue zahlen musste, war der Selbstzweifel. Dessen quälendstes Ende ist die die schlimmste Form des Hasses - der Selbsthass: «Und der König ging weg in seinen Palast und fastete die Nacht über und ließ kein Essen vor sich bringen und konnte auch nicht schlafen.»
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.