Wie eine Befreiung

Rede von Ursula Schwartz bei der Enthüllung der Gedenktafel an die linken Opfer des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion

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Am 17. Dezember hat die Linkspartei an ihrer Zentrale in Berlin eine Gedenktafel für die Kommunistinnen und Kommunisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten enthüllt, die dem großen Terror in der Sowjetunion zum Opfer fielen. Die Inschrift lautet: »Ehrendes Gedenken an Tausende deutsche Kommunistinnen und Kommunisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in der Sowjetunion zwischen den 1930er und 1950er Jahren willkürlich verfolgt, entrechtet, in Straflager deportiert, auf Jahrzehnte verbannt und ermordet wurden.« Bei einer Veranstaltung am Berliner Karl-Liebknecht-Haus hielt Ursula Schwartz eine Rede - sie und ihr in Straflager deportierter Vater konnten erst 1956 aus der Sowjetunion nach Berlin zurückkehren.


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

vor drei Jahren habe ich meine Unterschrift unter den Antrag zur Anbringung einer Gedenktafel für die während des Stalin -Terrors verfolgten und ermordeten deutschen Antifaschisten und Kommunisten gesetzt. Auf den Tag der öffentlichen Ehrung für meine Eltern, ihre Freunde und Genossen habe ich nicht vergeblich gehofft. Die heutige Einweihung dieser Gedenktafel erfüllt mich mit tiefer Genugtuung.

Dass es an diesem historischen Ort geschieht, ist auch für mich persönlich von besonderer Bedeutung. Die Geschichte meiner Eltern und damit auch meine eigene sind verbunden mit diesem Haus. Seit frühester Jugend waren meine Mutter und mein Vater aktiv in der Arbeiterbewegung. Später waren sie in unterschiedlichen Funktionen für die KPD tätig. Als dieser Ort noch Bülowplatz hieß, gehörte mein Vater zu den Genossen, die für die Sicherheit der in diesem Haus arbeitenden Führungskräfte der Partei sorgten. Das Karl-Liebknecht-Haus war nicht nur die Wirkungsstätte der Parteiführung, es war das Haus der Parteimitglieder, das Zentrum und das Herz der Bewegung.

Aus diesem Haus bekamen meine Eltern 1931 den Auftrag, mit meinen zwei Brüdern und mir nach Moskau zu übersiedeln. Dort angekommen, wollten meine Eltern einen Beitrag zum Aufbau des ersten Arbeiter- und Bauern-Staates leisten. Wir lernten die russische Sprache, schlossen Freundschaften und fühlten uns dem Land und den Menschen rasch zugehörig. Im verhängnisvollen Jahr 37, ich war 16 Jahre alt, wurden meine Eltern und mein ältester Bruder verhaftet. Mit der Rekrutierung meines jüngeren Bruders in die Arbeitsarmee verlor ich den letzten familiären Kontakt.

18 lange Jahre, die ich selbst unter misslichen Bedingungen verbrachte, hatte ich keine Informationen von meinen Angehörigen. Das Jahr 1955 brachte uns, die Überlebenden der Familie, wieder zusammen. Nach 25 Jahren durfte ich endlich in die Heimat, nach Berlin, zurückkehren. Ich nahm an, dass wir – nach den schrecklichen Ereignissen, die wir in der Sowjetunion unschuldig erleiden mussten, Worte der Anteilnahme und des Respekts hören werden. Die Realität war ein andere.

Über die Verbrechen Stalins und die Opfer wurde nicht öffentlich gesprochen. Das Schweigen war vielschichtig und unterschiedlich motiviert. In den Erinnerungen der Familien wirkten die schrecklichen Ereignisse und die Ungewissheit über das tatsächliche Schicksal der Angehörigen über die Jahrzehnte fort und wurden eine schwere Bürde.

Wie eine Befreiung wirkte 1989 die Botschaft des außerordentlichen Parteitags: Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System.

Wir Nachkommen begannen nach dem Schicksal unserer Angehörigen zu forschen. Es war ein schmerzvoller Prozess: Wir erfuhren von den ungeheuerlichen, konstruierten Anschuldigen, von erzwungenen Geständnissen, von Massenerschießungen und Massengräbern.

Unser Arbeitskreis sieht es als seine Verpflichtung an, dafür Sorge zu tragen, dass die Schicksale der unschuldigen Opfer nicht vergessen werden, dass ihnen ihre Namen zurückgegeben werden und ihnen ein würdiges öffentliches Gedenken gewährt wird. In dieser Stunde denke ich an meine Eltern, an meine Brüder, an die Freunde und Genossen meiner Eltern, an die Nachbarn in unserem Leningrader Emigrantenhaus, in dem Antifaschisten aus vielen Ländern Europas vorübergehend ein neues zu Hause gefunden hatten. Keine Familie entging der Verfolgungen der Jahre 1937/38. Allein aus diesem Haus wurden 31 Frauen und Männer erschossen. Der älteste von ihnen war der 53jährige Anton Kusik, ein Kommunist aus Estland. Das jüngste Opfer war mein Bruder Rudi, er war gerade 21 Jahre alt geworden. Er wurde am 15. Januar 1938 gemeinsam mit unserer Mutter erschossen.

So viele Jahrzehnte sind vergangen. Der Schmerz über den Verlust, über das sinnlose und unmenschliche Leid will nicht vergehen.

Ich wünschte, mein Vater wäre heute hier. Er, der die schrecklichen Jahre im Lager und in der Verbannung für immer tief in seinem Inneren begrub und der seiner Trauer um Frau und Sohn niemals öffentlich Ausdruck verleihen durfte. Ich wünschte, die Freundin meiner Berliner Kinderzeit, Margot Kippenberger, stände heute unter uns. Sie, die so viele Jahre vergeblich um die öffentliche Rehabilitierung ihres Vaters Hans Kippenberger kämpfte, enttäuscht und verbittert die DDR verließ. Ich denke an meine Arbeitskollegin Ilse Kohrt, der man die Rehabilitierung ihres Vaters, Heinrich Meyer, nur mündlich und im Geheimen gewillt war mitzuteilen. Ich denke an Karl Fehler, unserem leider schon verstorbenen Mitglied des Arbeitskreises, den das schwere Schicksal seiner Mutter im sibirischen Arbeitslager ein Leben lang begleitete.

Nun endlich bekommen die deutschen Antifaschisten und Kommunisten, die Opfer des Stalinisten Terrors wurden, an diesem für jene Generation bedeutsamen Ort die ihnen so lange verwehrte öffentliche Ehrung.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Ursula Schwartz und ihr in Straflager deportierter Vater konnten erst 1956 aus der Sowjetunion nach Berlin zurückkehren.

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