Ein sozialistisches Europa?

In der europäischen Linken wird seit jeher der Streit um Europa erbittert geführt. Ein kurzer Abriss

  • Thomas Händel und Frank Puskarev
  • Lesedauer: 10 Min.

Die Europäische Union ist in den letzten Jahrzehnten zu einem abgehobenen Elitenprozess entwickelt worden. Demokratie und ihre europäischen Institutionen wurden nur scheinbar gestärkt. Mitsprachen am »Europäischen Projekt« wurden verweigert oder – wo dies nicht ging, wie in Frankreich, den Niederlanden oder Irland – deren Ergebnisse schlicht ignoriert. Die passive Frustration, Distanz und Kritik der Menschen an diesem Europa wächst und lässt die Mythen des Nationalstaates wieder aufleben.

In der europäischen Linken wird seit jeher der Streit um Europa erbittert geführt. Die Positionen reichen vom »Zerschlagen des zentralistisch-imperialistischen Gebildes«, wie es etwa die griechischen Kommunisten fordern, bis zur Forderung nach den »Vereinigten Staaten von Europa«, wie sie in Teilen der deutschen LINKEN, bei den Grünen oder manchen Sozialdemokraten vertreten wird. Die linke Debatte um Europa hat freilich ihre eigene, oft ignorierte Geschichte.

Weit vor 1848 begann die Debatte, ob Europa nur ein Kontinent oder mehr sein sollte. Kein Standardwerk zur Geschichte der Europäischen Union und ihrer Vorgänger kommt ohne ein Zitat von Victor Hugo aus. »Ein Tag wird kommen …«, so beginnen die Sätze seiner Rede auf dem Pariser Friedenskongress im August 1849. Seine Vision war ein friedliches, soziales und demokratisches Europa als Bundesstaat (»die Vereinigten Staaten von Europa«). Dies könne die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen zumindest soweit eindämmen, dass nicht mehr Hunderttausende auf den Schlachtfeldern Europas zurück blieben – um 1848 / 49 lag Europa geradezu unter einem Dunst von Schwefel; bürgerliche Revolutionen wurden allerorts blutig niedergeschlagen. Hugo erkannte die Chancen, die sich aus der sich immer schneller entwickelnden Industrie und den Verkehrsmitteln für die Lebensbedingungen der Menschen und das Zusammenwachsen der Völker ergaben.

Und seine Rede enthielt eine Warnung: »Ein Tag wird kommen, wo es keine Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen und der Geist der sich den Ideen öffnet«. Wäre Hugo noch so euphorisch gewesen, wenn er geahnt hätte, welch zerstörerische Kraft »die Märkte« dereinst annehmen werden?

Diese Ideen finden vor allem in der wachsenden Arbeiterbewegung viele Anhänger: Kautsky, Ledebour, Lenin, Luxemburg und Trotzki haben sich mit der europäischen Frage auseinandergesetzt. Gleiches gilt später für Spinelli, Rossi, Siemsen, Abendroth, Huffschmid und Habermas, die als Politiker oder Intellektuelle die Diskussion um das Leitbild eines friedlichen, sozialen und demokratischen Europa beeinflusst haben. Sie sind hier exemplarisch genannt für mehrere Generationen von Linken – Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten – die aufgrund von Ausbeutung, Faschismus und Krieg ein anderes Gesellschaftsmodell für Europa gedacht und dafür gekämpft haben.

Karl Kautsky vertrat (1911), dass ein geeintes Europa stark genug wäre, um alle Nicht-Mitglieds-Staaten zu zwingen, ihre Armeen abzuschaffen und so dauerhaften Frieden zu sichern. Ein europäisches Heer wäre damit obsolet. Er hatte konkrete Vorstellungen, wie dieses Europa aussehen könnte: mit Parlament, Regierung und gemeinsamer Handelspolitik. Die Positionen trafen auf massiven Widerspruch: Rosa Luxemburg geißelte die Gedanken Kautskys als »unsozialdemokratisch«, Lenin hielt sie für politisch richtig, aber ökonomisch falsch. Luxemburg argumentierte, die Forderung nach einem geeinten Europa sei zwar plausibel, jedoch »utopistisch« Luxemburg 1911). Sie fürchtete ein imperialistisches »Wirtschaftsganzes«, das in Zeiten der Kolonisierung der halben Welt durch europäische Staaten ein rassistisches Projekt sein müsse.

Kautsky stelle dieselben Forderungen, wie sie von »bürgerlicher Seite […] mit reaktionärer Tendenz« in die Debatte gebracht worden seien. Damit war Luxemburg gleichermaßen visionär wie ungerecht. Visionär, weil ein ausschließlich auf wirtschaftlicher Einheit basierendes, kapitalistisch organisiertes Europa zum Scheitern verurteilt sei. Ungerecht, weil Kautsky gerade etwas anderes gefordert hatte: Er ging davon aus, dass allein eine europäische Revolution, ein sozialistische Europa seine Idee durchsetzen könne. Er ist von Luxemburgs Vorwurf so weit entfernt wie seine Idee von Europa von der heutigen EU.

Lenin hielt die Einigung Europas aus ökonomischer Sicht »unter kapitalistischen Verhältnissen« für »entweder unmöglich oder reaktionär«. Angesichts der unter den Großmächten aufgeteilten Welt könne ein Zusammenschluss unter europäischer Flagge nur zu mehr Ausbeutung führen. Ein »gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten« sei unter kapitalistischen Verhältnissen »unmöglich«. Ein geeintes Europa müsse mit Sozialismus verbunden werden. Lenin sah freilich die Möglichkeit von Sozialismus in einem Land, von dem aus der Welt-Sozialismus im Kampf »gegen die rückständigen«, also kapitalistischen, Staaten
errungen werden sollte.

Frieden, Sozialismus – Europa ?

Nach dem ersten Weltkrieg stellte sich erneut die Frage nach Möglichkeiten, wie man für eine friedliche Entwicklung in Europa Sorge tragen könne. In Russland hatte eine Revolution gesiegt, Millionen Menschen waren gestorben. Trotzki griff die Frage eines geeinten Europas auf und stellte die Friedensfrage wieder in den Mittelpunkt der Debatte (1923). Er setze sie ins Verhältnis zum kapitalistischen System: In Zeiten der Kapital-Überakkumulation seien es Krisen oder Kriege, die zu einem temporären Ausgleich führen. Nur eine europäische Föderation könne solche Auswege verhindern. Die gegensätzlichen Interessen zwischen den europäischen Mächten, wie sie sich in den Versailler Restriktionen (Wirtschaftsbeschränkungen, Reparationen und Zollschranken) niederschlugen, stünden einer wirtschaftlichen Erholung Europas entgegen. Anders als Luxemburg hielt er Europa für eine »innerlich eng verbundene wirtschaftliche Einheit«. Die Forderung nach einer Weltföderation wäre richtig, aber zu abstrakt.

In dieser Frühphase sind die Ideen eher skizzenhaft und transportieren die damals relevanten Vorstellungen von Demokratisierung und Teilhabe. Faschismus und Weltkrieg entfachten die Debatte dann neu – konkrete Vorschläge und Zielsetzungen wurden entwickelt.

Der italienische Kommunist Altiero Spinelli entwickelte 1941 zusammen mit Ernesto Rossi, Eugenio Colorni und Ursula Hirschmann konkrete Vorstellungen eines geeinten Europas unter sozialistischer Vorherrschaft. Angesichts der Spur der Verwüstung durch Europa und nach Jahren in faschistischer Haft auf der italienischen Gefängnisinsel Ventotene zeichneten sie das Modell eines sozialistischen Bundesstaates Europa: Bildung, gerechte Verteilung der durch die Industrialisierung sich stetig vermehrenden Reichtümer, Aufhebung der Klassengesellschaft und freie Gewerkschaften: »Die Grenze zwischen fortschrittlichen und reaktionären Parteien verläuft demnach nicht mehr längs der formellen Linie ihrer größeren oder geringeren Demokratie oder des Ausmaßes des einzuführenden Sozialismus. Der Bruch vollzieht sich zwischen denen, die immer noch das alte Endziel der Eroberung der nationalen politischen Macht im Auge haben, und dadurch, sei es auch unfreiwillig, den reaktionären Kräften Vorschub leisten, indem sie die glühende Lava der Volksbegeisterung in den alten Formen erstarren lassen, und den anderen, denen die Schaffung eines stabilen internationalen Staates am Herzen liegt, und die die Kräfte des Volkes in diese Richtung lenken.«

Das sozialistische Europa sollte sich deutlich vom Kommunismus sowjetischer Prägung absetzen. Sie setzten auf regulierten Wettbewerb statt Monopole und soziale Sicherungssysteme, die wirtschaftliche Fehlentwicklungen korrigieren konnten. Das Manifest umfasst selbst die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen.

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wurde »Europa« der neuen Systemauseinandersetzung unterworfen und in der Blockauseinandersetzung funktionalisiert. Die linke europäische Idee geriet »nicht nur in den Zwang zur weltpolitischen Anlehnung in nur einer Richtung, sondern notwendig unter das Vorzeichen antibolschewistischer Vorstellungen« (Abendroth 1951). Diese möchten »die Antriebe der radikalen sozialen Demokratie vernichten« und verunmöglichten jede progressive gesamteuropäische Weiterentwicklung.

Im westlichen, kapitalistischen Teil Europas wurde die Idee eines teilweise geeinten Europa aufgenommen – aber eben unter anderen Vorzeichen. Robert Schuman und Jean Monnet schlugen vor, dass zunächst bestimmte Wirtschaftszweige gemeinsam agieren sollten (Montanunion), später ein gemeinsamen Markt, noch später die politische Union entstehen sollte. Es blieb im Wesentlichen ein »Regierungseuropa«, dessen politische Ratio die Blockkonfrontation war. In den »Römischen Verträgen« von 1957 fanden sich neben der Akzentuierung auf wirtschaftliche Interessen und der Betonung einer »sozialen Marktwirtschaft« höchstens Spurenelemente der linken Ideen wie die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten auf das Prinzip »gleicher Lohn für gleiche Arbeit«.

Anna Siemsen, die vor den Faschisten in die Schweiz geflohene ehemalige sozialdemokratische Reichstags-Abgeordnete, schrieb: »Kommt das geeinte und freie Europa, so kommt mit ihm ( …) auch das volle Bürgerrecht aller Europäerinnen.« Sie rief die Frauen Europas auf, sich für ein föderatives, friedliches, soziales und demokratisches Europa einzusetzen, weil nur so die Rechte der Frauen in allen europäischen Ländern denen der Männer gleichgestellt würden.

Eine solidarische und humane Gesellschaft sei nur ohne Konkurrenzkampf und Unterdrückung durch Kapitalismus machbar und ein geeintes Europa wäre ein gutes Stück des Weges hin zu einer sozialistischen Weltföderation. Tatsächlich aber spielte die gewerkschaftliche, kommunistische und sozialdemokratische Linke in den Integrationsschritten der folgenden Jahrzehnte realpolitisch wie konzeptionell keine wesentliche Rolle.

Der ordoliberale Weg

Seit den späten Siebzigern setzte sich über verschärfte kapitalistische Krisen eine neoliberale Denkweise durch, die den Wettbewerb sowohl in der Wirtschaft als auch unter den Staaten in Europa zur Doktrin hatte. Solidarische und kooperative Gedanken, eine linke, progressive Gesellschaftsidee hatten ausgedient – zumal nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa. Es gab eine relativ stabile, »organische« Machtstruktur, die über nationale Grenzen hinweg wirtschaftlich, intellektuell und moralisch einen Block bildete. Erst in den letzten Jahren gewann die linke Europadebatte wieder an Kraft. Noch als Vorsitzender der SPD plädiert Oskar Lafontaine für eine innere Reform der EU, die mit einer Stärkung des Europäischen Parlaments einhergehen müsse. Die politische Union sei das Ziel eines geeinten Europa.

Jürgen Habermas stellt die Demokratiefrage. Nicht die Menschen würden der europäischen Einigung feindlich gegenüber stehen. Die gegenseitige Blockade der Mitgliedsstaaten untereinander sei für die Legitimationskrise Europas verantwortlich. Er setzt darauf, die Politik in der EU zu demokratisieren, die Menschen einzubinden. Angesicht der weltweiten Entwicklungen sei es notwendig, die europäische Einigung als Schritt zur Weltgemeinschaft zu verstehen und so eine globale »Pazifisierung« zu befördern.

Jörg Huffschmid hatte das »sozialpolitische Trauerspiel« im EU-Verfassungsentwurf und dem Lissabonvertrag kritisiert, der von Solidarität und Sozialem nicht viel übrig ließ. Eine Alternative müsste sich »auf drei Eckpfeiler stützen: Erstens eine voll entwickelte Demokratie, die dem europäischen Parlament die volle Souveränität über die europäische Gesetzgebung gibt und gleichzeitig die Rechte der Mitgliedsländer (etwa durch die Umwandlung des Ministerrates in eine zweite Gesetzgebungskammer) wahrt. Zweitens eine wirtschafts- und sozialpolitische Konzeption, die sich nicht primär am Ziel der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ausrichtet, sondern Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit zu ihren Orientierungspunkten macht und zu diesem Zweck auch in Marktprozesse eingreift sowie ein vernünftiges Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Sektor etabliert. Drittens eine Konzeption von internationalen Beziehungen, die sehr viel mehr Energie und Geld für friedliche und kooperative Zusammenarbeit sowie Entwicklungshilfe als für Marktöffnung und Militäreinsätze aufwendet«.

Die reale Entwicklung jedoch geht in die andere Richtung: autoritärer Demokratieabbau. Als post-demokratische Form eines autoritären Finanzmarkt-Kapitalismus, in der die demokratischen Institutionen durch eine Mischung aus ausgeklügelten Polittechniken der Eliten und ausufernder politischer Lobbymacht transnationaler Konzerne entwertet werden, hat Europa keine demokratische Zukunft.

Linke Option

Der Linken ist es bisher nicht gelungen, ihr Votum für ein anderes Europa in eine konzise und geteilte Idee und Politik für ein friedliches, soziales und demokratisches Europa umzusetzen. Die europäische Krisenpolitik will das herrschende System optimieren und stellt nahezu ausschließlich die Interessen der Wirtschaftseliten und Standortlogiken nach vorn. Eine reaktive Kritik der »Rettungsschirme«, Gipfelergebnisse und sozialen Schandtaten reicht dagegen nicht aus.

Es geht um die – anspruchsvolle – Aufgabe, ein gemeinsames europäisches Alternativprojekt zu formulieren: »Wie wir künftig arbeiten und leben wollen?!« Gefordert ist eine Konzeption für ein kooperatives, solidarisches Europa mit guter Arbeit, hohen sozialen Standards und Sicherheit und dem mittelfristigen Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse. Wesentliche Elemente eines alternativen Europas sind die strikte Re-Regulierung der Finanzmärkte und die gesellschaftliche Kontrolle über große Finanzmarktakteure. Europa braucht eine koordinierte Lohnpolitik, ein System kooperativer Stabilität mit der Stärkung der Binnenmärkte. Die öffentlichen Sektoren müssen ausgebaut und das gesellschaftliche Eigentum ausgeweitet werden. Europa braucht eine rote und grüne Industrie- und Wirtschaftspolitik und eine wirkliche Demokratisierung durch Stärkung demokratischer Institutionen, die Schaffung wirtschaftsdemokratischer Strukturen und direkte Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen.

Thomas Händel ist Abgeordneter der Linken im Europaparlament, Frank Puskarev ist Mitarbeiter von Thomas Händel. Dieser Text erschien zuerst in LUXEMBURG – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Ausgabe 2 / 2012, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin und fand erneut Aufnahme in eine Broschüre mit europapolitischen Texten, herausgegeben von den Mitgliedern des Europäischen Parlaments Cornelia Ernst, Thomas Händel, Jürgen Klute, Martina Michels, Helmut Scholz, Gabriele Zimmer.

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