Türkei: Polizei schießt schon vor Demo-Start
Wasserwerfer und Plastikgeschosse gegen regierungskritische Proteste / Justiz stoppt Eingriffe der Regierung in Aufklärung des Korruptionsskandals
Istanbul. Vor dem Hintergrund des Korruptionsskandals in der Türkei ist die Polizei am Freitagabend mit großer Härte gegen regierungskritische Demonstranten im Zentrum von Istanbul vorgegangen. Die Sicherheitskräfte setzten schon vor dem geplanten Beginn der Demonstration Wasserwerfer, Tränengas und Plastikgeschosse ein. Demonstranten forderten in Sprechchören den Rücktritt der Regierung. Sie skandierten außerdem wie bereits bei den Protesten im Sommer: »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand«. Vereinzelte Protestierer warfen Steine auf Wasserwerfer.
Die Regierungsgegner hatten angesichts des Korruptionsskandals zu einer Demonstration auf dem zentralen Taksim-Platz aufgerufen. Die Polizei verwehrte den Demonstranten den Zugang zu dem in Teilen abgeriegelten Platz. Auf der zum Taksim-Platz führenden Einkaufsmeile ging die Polizei dann gegen Gruppen von Demonstranten vor und verfolgte sie in Seitengassen. Vom Gezi-Park am Taksim-Platz waren im Sommer die landesweiten Proteste gegen die islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ausgegangen.
Der Korruptionsskandal erschüttert die Türkei seit zehn Tagen und hat zum Rücktritt von drei Ministern geführt. Einer davon hatte auch Erdogan zum Amtsverzicht aufgefordert. Erdogan hatte am Mittwoch zehn seiner 26 Kabinettsposten neu besetzt. Bei den Ermittlungen geht es unter anderem darum, ob gegen Schmiergeld illegale Baugenehmigungen erteilt und Handelssanktionen gegen den Iran unterlaufen wurden.
Unterdessen hat die türkische Justiz weiteren Eingriffen der Regierung in die Aufklärung des massiven Korruptionsskandals einen Riegel vorgeschoben: Der Staatsrat stoppte am Freitag ein hoch umstrittenes Dekret, mit dem Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Kontrolle über die Polizei ausweiten wollte. Die EU-Kommission warf seiner Regierung vor, die Korruptionsermittler zu behindern.
Erdogan wollte mit dem Dekret vom vergangenen Sonntag sicherstellen, dass Polizisten ihre Vorgesetzten informieren, bevor sie Anweisungen der Staatsanwaltschaft ausführen. Für den Staatsrat war das offenbar ein Manöver, um weitere Verdächtige aus dem Umfeld der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (APK) vor dem Zugriff der Justiz zu schützen. Die oberste Justizbehörde des Landes erklärte, die Anwendung des Dekretes würde dem Staat »irreparable Schäden« zufügen.
Von einer ersten Verhaftungswelle vor anderthalb Wochen waren dutzende Geschäftsleute und Politiker aus dem Umfeld Erdogans betroffen, die Söhne von drei Ministern sitzen in Untersuchungshaft. Unter dem Druck der Justiz tauschte Erdogan zehn Minister aus.
In der Affäre geht es nach Angaben der Ermittler um die Bestechung von Politikern, um Genehmigungen für Bauvorhaben zu erreichen und illegale Goldgeschäfte der staatlichen Halkbank mit dem Iran zu vertuschen. Hintergrund ist aber offenbar ein Konflikt zwischen der AKP und der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Erdogan hatte die Bewegung mit der Ankündigung gegen sich aufgebracht, hunderte ihrer Nachhilfezentren zu schließen.
Nach den ersten Verhaftungen entließ die Regierung hunderte Polizisten, denen sie vorwarf, sie nicht über die Ermittlungen informiert zu haben. Am Donnerstag wurde zudem Staatsanwalt Muammer Akkas von den Ermittlungen abgezogen. Er warf seinen Vorgesetzten und der Polizei vor, ihn unter Druck gesetzt und sich geweigert zu haben, weitere Verdächtige aus der AKP festzunehmen.
Dadurch werde »die Unabhängigkeit der Justiz untergraben«, kritisierte EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle. Er verlangte vom EU-Beitrittskandidaten Türkei, den Korruptionsskandal »transparent und unparteiisch aufzuklären«.
Die türkische Presse meldete gar, dass die Justiz auch gegen Erdogans Sohn Bilal ermittele, der die Jugend- und Bildungsstiftung TURGEV leitet. Erdogan selbst bezeichnete die gesamten Ermittlungen am Freitag vor Parteianhängern abermals als Schmierenkampagne und Angriff auf die Türkei und ihre starke Wirtschaft. Doch die bekommt die Krise auch immer stärker zu spüren: Die türkische Lira fiel am Freitag auf ein Allzeitief gegenüber dem Dollar, die Börse sackte um gut einen Prozent ab.
Zu Gerüchten eines geplanten Militärputsches erklärte der Generalstab, die Streitkräfte wollten »nicht in die politischen Debatten« hineingezogen werden. Das türkische Militär hatten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder interveniert, um ihre Interessen zu verteidigen und den säkularen Charakter des Staats zu schützen. Agenturen/nd
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