Wehmütig nimmt Lettland Abschied vom Lats

Trotz teurer »Aufklärungskampagne« begrüßt nur eine Minderheit der Bevölkerung den Währungswechsel zum Euro

  • Toms Ancitis, Riga
  • Lesedauer: 6 Min.
Verbraucherschützer hatten vor dem Jahreswechsel in Lettland viel Arbeit: Sie sollten den Missbrauch bei der Umstellung der Preise von Lats auf Euro verhindern.

Silvija Plumina sitzt in einem Café im Zentrum Rigas. In einer Hand hat sie die Speisekarte, in der anderen hält sie einen Taschenrechner. Sie streicht mit dem Finger über das Menü und tippt die Preise ein. Kaffee, Eis, Kuchen, Tee. Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine Kundin, die sorgfältig ausrechnet, wie viel sie bestellen darf, um nicht zu viel Geld auszugeben. Tatsächlich ist sie aber gar nicht hier, um zu essen oder zu trinken. Silvija Plumina überprüft für das lettische Zentrum für Verbraucherschutz, ob alle Preise korrekt von Lats in Euro umgerechnet worden sind.

Ab 1. Januar gibt die Baltenrepublik mit ihren zwei Millionen Einwohnern ihre alte Währung Lats auf und führt als 18. EU-Mitgliedsland den Euro ein. Deshalb müssen in Lettland schon seit Oktober alle Preise doppelt ausgezeichnet sein - in Lats und Euro.

Natürlich darf der Staat niemandem verbieten, die Preise zu erhöhen, sagt Baiba Vitolina, die Leiterin des Zentrums für Verbraucherschutz. Doch wenn ein Unternehmen Produktpreise falsch von Lats in Euro umrechnet, gilt das als unlauterer Wettbewerb. Dann droht ein Bußgeld, das 500 Lats erreichen kann, umgerechnet rund 700 Euro.

Einen Fehler hat Silvija Plūmiņa bereits bemerkt. »Sehen Sie«, zeigt sie auf einen Preis, »wenn ich das mit meinem Taschenrechner überprüfe, kommt ein anderer Wert heraus. Entweder hat das Café einen falschen Wechselkurs benutzt oder der Preis ist falsch gerundet.« In diesem Fall wird der Händler nicht bestraft, sondern nur verwarnt. Die Verbraucherschützerin erkennt keinen echten Missbrauch, sondern nur einen »menschlichen Fehler«.

Die lettischen Verbraucherschützer prüfen im ganzen Land rund 30 000 Unternehmen wie dieses Café in Riga. Einen »richtigen Missbrauch« bei der Umrechnung der Preise hat das Zentrum für Verbraucherschutz allerdings bisher nur selten entdeckt, erzählt Baiba Vitolina. Das liegt daran, dass Lettland sich in einer einzigartigen Situation befindet, wenn man es mit den anderen Ländern vergleicht, die bisher den Euro eingeführt haben: Der Lats ist die teuerste Währung Europas, er ist mehr wert als der Euro selbst. Gerade einmal 70 Lats bekommt man heute, wenn man in den Wechselstuben von Riga 100 Euro über den Tresen schiebt. In Euro umgerechnet, sehen also alle Preise höher aus als in Lats.

Wenn die Kunden die neue Zahlen sehen, erschrecken viele, auch wenn die Preise tatsächlich nicht höher sind. »Auf den ersten Blick siehst du nicht gleich, welcher der Euro- und welcher der Lats-Preis ist. Da denke ich oft: Ist es wirklich so teuer geworden?«, bekennt Dainis Klimkans, ein Kunde im Supermarkt. Für einen Liter Milch beispielsweise, der bislang auf dem Markt 0,6 Lats kostet, werden ab Januar 85 Eurocent fällig. Der Preis eines Kilos Käse wird von 5 Lats auf 7,10 Euro wechseln. Arnis, ein Rentner, der im Rigaer Zentralmarkt Fleisch kauft, will bemerkt haben, dass die Preise schon vor dem 1. Oktober erhöht worden sind. Zwar wurden sie ganz korrekt in Euro umgerechnet, aber trotz aller Prüfungen der Verbraucherschützer hat der Rentner festgestellt: »Fleisch hat früher 2,20 Lats gekostet, später 2,40, heute kostet es schon 2,60 Lats.«

Die Statistik zeichnet indes ein anderes Bild. In den vergangenen Jahren seien die Durchschnittspreise stabil geblieben - trotz Wirtschaftswachstums, das in Lettland letztes Jahr sogar am höchsten in der EU ausfiel. Und gerade jüngst erlebe das Land sogar eine geringe Deflation, sagt Peteris Strautins, Analytiker der Bank DnB Nord, und fügt hinzu: »Eine deutliche Preissteigerung nach der Euro-Einführung ist nicht zu erwarten.«

Für den Supermarktkunden Dainis Klimkans wären alle Unbequemlichkeiten mit der neuen Währung leichter zu ertragen, wenn er verstünde, warum Lettland den Euro unbedingt braucht. Die »da oben«, sagt er, hätten sich für den Euro entschieden. »Für mich persönlich war der nicht nötig. Wahrscheinlich werden nur einige unserer Oligarchen davon profitieren.«

Obwohl die Euro-Einführung unmittelbar vor der Tür steht, teilt immer noch ein großer Teil der Bevölkerung Lettlands eine ähnliche Meinung. Seit dem Herbst, als die Regierung eine von der EU finanzierte »Aufklärungskampagne« zur Euro-Einführung begann, ist die Zahl der Freunde des Euro zwar gestiegen. Doch laut jüngsten Umfragen ist es nach wie vor nur eine Minderheit, die den Währungswechsel begrüßt.

Die lettische Regierung reagiert auf diese Skepsis schon seit Monaten unverändert: Im Laufe der Zeit werde sich die Bevölkerung schon an den Euro gewöhnen. Ministerpräsident Valdis Dombrovskis wiederholte diesen Satz beim jüngsten EU-Gipfel in Brüssel. Auch im benachbarten Estland sei die Bevölkerung vor der Euro-Einführung skeptisch gewesen, sagte Dombrovskis den Journalisten, doch sehr bald sei der Anteil der Euro-Unterstützer bis auf 70 Prozent gestiegen, und so werde es auch in Lettland sein.

Dombrovskis äußerte das allerdings nicht mehr als »ordentlicher« Regierungschef, sondern nur noch als Vorsitzender eines geschäftsführenden Kabinetts. Denn der 42-Jährige trat am 27. November zurück - wegen des vermutlich durch schwere Baumängel verursachten Einsturzes eines Rigaer Supermarktes. 54 Tote waren zu beklagen. Mit ihrem Rücktritt übernehme seine Mitte-Rechts-Regierung die politische Verantwortung für die Tragödie, sagte der Premier.

Politikexperten spekulieren aber, dass es auch andere Gründe für den Amtsverzicht geben könnte. Dazu gehören die schon seit Monaten schwelenden Probleme mit Ministern der Nationalen Allianz, des nationalistischen Koalitionspartners von Dombrovskis’ Einheitspartei (Vienotiba). Der Premier habe die Katastrophe als Gelegenheit benutzt, um durch seinen ehrenhaften Rücktritt »politische Punkte« in einer Situation zu sammeln, da die Koalition ohnehin nicht mehr lange bestehen dürfte. Das oppositionelle Harmoniezentrum - die Partei des Rigaer Bürgermeisters Nils Usakovs - hat durch den Rücktritt der Regierung schon an Popularität eingebüßt. Denn die Verantwortung für Planung und Bauausführung des Supermarkts oblag der Stadtverwaltung, also hätte zuerst Usakovs zurücktreten müssen. Der denkt jedoch nicht daran und wirft Dombrovskis vor, er laufe nur vor Problemen davon, »die er zu lösen nicht bereit war«. Die regierende Einheitspartei wolle im Hinblick auf die Wahlen im kommenden Jahr nur ein paar Sympathiepunkte sammeln.

Der Fortgang hängt nun von der Entscheidung des Präsidenten Andris Berzins ab, der den Parteien bis zum 7. Januar Zeit gegeben hat, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs zu einigen. Wenn das nicht gelingt, wird der Staatspräsident einen eigenen Kandidaten vorstellen. Mittlerweile ist auch die Regierungsbeteiligung des Harmoniezentrums denkbar, das sich besonderer Wählergunst des russischsprachigen Bevölkerungsdrittels erfreut und bisher stets ausgeschlossen blieb.

Der Mann, der 20 Minuten nach Mitternacht am 1. Januar den ersten Euro-Schein aus einem Geldautomaten der Bank Citadele in der Rigaer Altstadt zieht, wird dennoch Valdis Dombrovskis sein, assistiert von seinem estnischen Kollegen Andrus Ansip. Große Feierlichkeiten werde es jedoch nicht geben, nur eine ganz einfache symbolische Veranstaltung, betont Dombrovskis.

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