Verlorene Kindheit
Erniedrigt, geschlagen, ausgebeutet - ein Leidensweg durch Heime der alten Bundesrepublik
Der Tod der Mutter bedeutete für Heidelore Rampp den tiefsten Einschnitt ihres Lebens. Bis dahin wuchs das Einzelkind behütet im Schoß der Familie in Karlsruhe auf. »1957 wurde auf Knopfdruck alles anders«, erzählt die 68-Jährige, die heute in Stuttgart lebt. Damals war sie zwölf Jahre alt und kam auf Wunsch ihres Vaters in ein Heim. Die nächsten viereinhalb Jahre waren eine Tortur: Sie wurde nicht nur erniedrigt und ausgebeutet, sondern auch geschlagen und vergewaltigt.
Rampp ist eines der bis zu 800 000 Kinder, die zwischen 1949 und 1975 in kirchlichen oder staatlichen Heimen in Westdeutschland lebten. Bundesweit haben bislang aber nur 9604 Menschen Leistungen aus den beiden Fonds für Ex-Heimkinder erhalten, davon 3284 Betroffene, die in der DDR aufwuchsen.
Heidelore Rampp hat sich nicht kleinkriegen lassen. Sie hat sich dazu durchgerungen, offen mit dem Erlittenen umzugehen und sitzt heute im Beirat der Anlaufstelle Heimerziehung in Stuttgart. »Bei vielen ist es heute noch ein Tabu, von dem selbst enge Angehörige, sogar Ehepartner, nichts wissen«, sagt Irmgard Fischer-Orthwein von der Anlaufstelle. »Die Menschen fühlen sich schuldig für etwas, für das sie bei Gott nicht selbst schuld sind.« Rampp weiß allerdings genau, wem sie ihr Schicksal zu verdanken hat. »Mein Vater hat mich nach dem Tod der Mutter als Last gesehen.« Sie fügt bitter hinzu: »Er hat mich verlassen, betrogen und angelogen.«
An dem Tag vor rund 56 Jahren, als Vertreter des Jugendamtes sie quasi entführten, erinnert sie sich, als wäre es gestern. Mit einer Autofahrt zum Arbeitsplatz des Vaters sei sie gelockt worden. Sie landete in einem evangelischen Heim in Lahr. Dort wurde sie anfangs in einen nur mit einer Pritsche und einem Hocker ausgestatteten »Besinnungsraum« gesperrt. Alles sei darauf ausgerichtet gewesen, die Persönlichkeit der Kinder zu brechen: Waschen im Kollektiv, Verzicht auf Eigentum, Verbot von Gesprächen, Zensur von Briefen.
Die Mädchen mussten im angeschlossenen Hof schuften, Bildung wurde kleingeschrieben. Nichtige Bemerkungen reichten aus, um malträtiert zu werden. Rampp erinnert sich an Schläge mit dem Rohrstock. Dabei beschimpfte sie die Ordensschwester: »Du bist ein liederliches Subjekt.« Erst der dritte Ausbruchsversuch, dem eine ärztliche Untersuchung folgte, überzeugte den Vater davon, sein Kind nicht länger den Misshandlungen auszusetzen. »Bis dahin hat er sich das schöngeredet und mir eine blühende Fantasie vorgeworfen.«
Nach einer kurzen Zeit in einem besseren Heim in Lörrach folgte der blanke Horror in einer Leonberger Anstalt für schwer erziehbare Mädchen. »Dort habe ich in der Weißzeugstickerei gearbeitet wie nie mehr in meinem Leben«, erzählt Rampp. Geld hat sie dafür nie gesehen. Vom Fonds Heimerziehung hat sie allerdings die den Opfern zustehenden 300 Euro Rentenersatzleistung für jeden Monat Arbeit im Heim erhalten. Bis zur Rente war Rampp als Sekretärin tätig.
Das größte Leid fügten der Jugendlichen Mitbewohnerinnen zu. Die beiden älteren Mädchen vergewaltigten sie im Schlafraum. Die Schwestern kanzelten das Opfer mit den Worten ab: »Du wirst schon das Deinige dazu beigetragen haben.« Hatte das Erlebnis Folgen für spätere Beziehungen? Ja, meint die Mutter zweier Söhne. Sie fasse schwer Vertrauen. »Mein Mann hat es nicht einfach gehabt«, fügt sie hinzu. Nach Angaben der Anlaufstelle haben rund zwei Drittel der Betroffenen sexuelle Gewalt erlebt.
Die seelischen Schäden hat Rampp nach einem beruflichen Rückschlag 2006 aufgearbeitet. Dafür schrieb sie ihre Leidensgeschichte nieder, allerdings um den Preis eines Nervenzusammenbruchs und zweier Hörstürze. Rampp reichte gemeinsam mit anderen ehemaligen Heimkindern Petitionen beim Landtag Baden-Württembergs und beim Bundestag ein. »Uns ging es nicht ums Geld, sondern um die Anerkennung des Leids.« Noch immer verschlössen viele die schmerzvolle Vergangenheit im Innern. »Ich kann nur an alle appellieren, die Scham zu überwinden und die Chance zu nutzen, das einzufordern, was uns zusteht.« dpa/nd
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