Werbung

Die Krise entfaltet sich supranational

Andrés Ruggeri: Reaktivierte Betriebe in Europa entstehen oftmals aus Konflikten gegen Standortverlagerung

  • Lesedauer: 4 Min.
In Europa ist es ein Novum: ein über-
regionales Treffen über selbstverwaltete Betriebe. Die Konferenz »The Economy of the Workers« (Die Ökonomie der Arbeiter) findet am 31. Januar und 1. Februar 
in Marseille statt, in der Teebeutelfabrik »Fralib«, die von den Arbeitern und 
Arbeiterinnen besetzt wurde, um die 
Arbeitsplätze zu erhalten. Ähnliche Treffen wie in Marseille gab es bisher nur in 
Lateinamerika. Lateinamerikaner sind auch in Marseille präsent.

nd: Die reaktivierten Betriebe sind vor allem bekannt als ein argentinisches Phänomen. Warum?
Ruggeri: Ich denke, weil die Krise und die Intensität der Mobilisierungen während der Jahre 2001 und 2002 zur Folge hatten, dass sie sich zu einer sozialen Bewegung mit breiter politischer und sozialer Reichweite entwickelten. Dies lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit nachhaltig auf die Prozesse der Umwandlung von Betrieben unter kapitalistischer Leitung hin zu selbstverwalteten Betrieben, durch Widerstand - aber auch die Aufgabe der Betriebe durch ihre vormaligen Eigenümer spielte eine wichtige Rolle. Der Unterschied zu anderen Ländern besteht also insbesondere darin, dass die reaktivierten Betriebe in Argentinien eine eigene Identität bekamen.

Wie viele reaktivierte Betriebe gibt es momentan in Lateinamerika und in anderen Regionen der Erde?
Für Argentinien haben wir sehr genaue Zahlen. Erst im November 2013 haben wir unsere letzte Erhebung abgeschlossen. Dort gibt es aktuell 310 Betriebe, in denen über 15 500 Arbeiter tätig sind. Im Vergleich zur letzten Erhebung konnte somit ein bedeutsames Wachstum festgestellt werden. Die vorhanden Daten für die anderen lateinamerikanischen Länder sind weniger exakt. In Brasilien hat eine Forschungsgruppe mit unserer Unterstützung eine entsprechende Erhebung durchgeführt. Sie haben 70 reaktivierte Betriebe mit um die 8000 Beschäftigten gezählt. In Uruguay werden momentan Daten erhoben. Sie gehen von etwa 30 Betrieben mit ungefähr 2000 Beschäftigten aus. In anderen Ländern gibt es vereinzelte Fälle, aber es ist derzeit noch nicht möglich, das Phänomen dort quantitativ zu erfassen.

Immer mehr Menschen suchen nach Alternativen

Ob Genossenschaften oder selbstverwaltete Betriebe: In Spanien befinden sich Modelle jenseits des klassischen kapitalistischen Eigentumsmodells im Aufwind. Mehr

Aber auch in anderen Ländern übernehmen Arbeiter und Arbeiterinnen ihre Betriebe in Selbstverwaltung?
Wenn wir die globalen Marktdynamiken beobachten, stellen wir fest, dass ständig Betriebe pleitegehen und schließen. Einige von ihnen wandeln sich in reaktivierte Betriebe, ohne aber dieses Etikett zu nutzen. Im Kontext der neoliberalen Hegemonie und der daraus resultierenden Krisen wiederholen sich diese Prozesse ein ums andere Mal. Reaktivierte Betriebe lassen sich an vielen Orten identifizieren und es wird nun freilich mehr Fälle in den Ländern Europas geben, die stärker von der Krise betroffen sind. Es finden sich aber auch einige Beispiele in den USA und in Ostasien. Aber darüber ist sehr wenig bekannt.

Dann kommt es in Europa jetzt also zu einer vergleichbaren Entwicklung wie in Lateinamerika, oder?
Der jeweilige Kontext ist unterschiedlich. In Argentinien und Lateinamerika existieren relativ starke soziale Bewegungen. Dadurch gibt es viel Unterstützung für die Betriebsübernahmen. Hinzu kommt, dass der europäische Kapitalismus sehr viel stärker ist als der Unsrige. Die staatlichen Institutionen sind einflussreicher, die ökonomischen und repressiven Kapazitäten der Mächtigen sind wesentlich größer. Auch verbleibt die Krise hier nicht in einem Land, sondern sie wirkt darüber hinaus. Supranationale Instanzen, wie die Europäische Union sind entscheidend für die Gesetzgebung. Die massenhafte Schließung und Ausschlachtung von Fabriken beruhte in Argentinien auf internen Ursachen. Die reaktivierten Betriebe in Europa entstehen dagegen oftmals aus Konflikten gegen Standortverlagerung nach Osteuropa oder nach Asien.

Könnten die reaktivierten Unternehmen in Argentinien ein Modell für Europa in der Krise sein?
Es sind unterschiedliche Situationen. Der argentinische Staat war während der Krise von 2001 kurz davor zu verschwinden. Heute in Europa mag es in einigen Ländern eine Legitimitätskrise des Staates geben. Aber es ist die herrschende Klasse, die die alte Form des Sozialstaates zerstört und ihn durch den neoliberalen Staat ersetzt. Was meines Erachtens für eine Auswertung der argentinischen Erfahrungen in Europa sehr nützlich sein kann, ist all das, was mit den Werkzeugen der sozialen Legitimation zu tun hat, über die ein selbstverwaltetes Unternehmen verfügt. Die Erschaffung von Räumen, die nicht nur ökonomisch sind, wie zum Beispiel Stadtteilzentren. Ich bin nicht sicher, ob dieser Aspekt als Modell übernommen werden kann, aber sicher als Inspirationsquelle.

Was erwarten Sie vom ersten europäischen Treffen zur »Ökonomie der Arbeiter« in den kommenden beiden Tagen?
Dieses Treffen ist eine Fortsetzung der internationalen Treffen, die wir als Arbeitsgruppe seit 2007 mit großem Kraftaufwand angestoßen haben. Bislang gab es jedoch nur wenig Beteiligung aus Europa. Das wird sich mit diesem Treffen ändern. Ich erwarte, dass verschiedene Bereiche, die bislang keinen Kontakt zueinander hatten, damit beginnen, Erfahrungen auszutauschen und sich zu koordinieren. Dies wäre für den Moment schon einmal einiges.

Andrés Ruggeri ist Sozialwissenschaftler und Leiter einer Arbeitsgruppe der Universität Buenos Aires, die seit 2002 das Phänomen der empresas recuperadas, der »reaktivierten Betriebe« untersucht. Seit 2007 war er an der Organisation von verschiedenen internationalen Treffen in Argentinien, Brasilien und Mexiko beteiligt, wo sich Arbeiter, Aktivisten und Wissenschaftler trafen, um das Thema zu diskutierten und Erfahrungen auszutauschen. Anlässlich des Treffens in Marseille sprach mit ihm für »nd« Florian Wagener.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -