High Five im Höhenrausch
Roofing: Ein gefährlicher Extremsporttrend aus Russland begeistert in den sozialen Netzwerken
Dichter Nebel senkt sich über Shanghai. Smog oder Nebel, ganz genau weiß man das in der 23-Millionen-Einwohner-Stadt nicht. Die Arbeiten am höchsten Turm Chinas, dem Shanghai Tower, liegen heute brach. Es wird gegessen, Chinesisch Neujahr gefeiert, das Jahr des Pferdes begrüßt. Zwei junge Russen sind in der Stadt. Sie sind nicht gekommen um zu feiern. Sie wollen nur eines: 650 Meter in die Höhe klettern. Ohne Seil, ohne Netz.
Roofing, abgeleitet vom englischen Begriff für »Dach« heißt die extreme Sportart, die Vadim Machorow und Vitali Raskalow betreiben. Ein Trend, der besonders unter jungen Russen immer beliebter zu werden scheint. Die Jugendlichen klettern auf die höchsten Gebäude ihrer Stadt, erklimmen die Pyramiden in Gizeh, Vadim und Vitaliy, Stars der Szene, stiegen im September letzten Jahres auf den Kölner Dom.
Spektakuläre Bilder sind es, die die beiden von ihren extremen Klettertouren mitbringen. Bilder, die in Lebensgefahr geschossen wurden. Je höher, je spektakulärer, desto besser. »Roofing ist ein Symptom«, sagt die Soziologin Babette Kirchner, die sich in ihrer Forschung seit Jahren mit Jugendszenen auseinander setzt. Ein Symptom für eine an ihren starren Regeln und restriktiver Politik kränkelnden Gesellschaft.
Das der Trend gerade in Russland so stark boomt sieht Kirchner in zwei Ursachen begründet: Das starre politische System Russlands und die vielen kommunistischen Prachtbauten, die sich für das Roofing anbieten. Durch das Roofing schaffen sich die Jugendlichen ihren Freiraum, brechen aus ihrem Alltag aus, meint Kirchner. Sie steigen den Mächtigen aufs Dach – nicht nur symbolisch.
Anders als beim Bouldern, eine Form des Kletterns, die ebenfalls ungesichert ausgeübt wird und in Absprunghöhe geklettert wird, findet Roofing in extremen Höhen statt. Ein falscher Schritt beim Roofing, hat in solchen Höhen verhängnisvolle Folgen. An solche Folgen, scheinen Vadim und Vitaliy nicht zu denken. Seit einer Ewigkeit hätten sie davon geträumt, den Shanghai Tower zu besteigen, schreibt Vadim auf seinem Blog.
Im Rausch der Höhe
Schwarzer Kapuzenpulli, Gopro-Kamera auf dem Kopf, mehr brauchen die beiden Russen nicht um die 120 Stockwerke des Shanghai Towers zu erklimmen. Zwei Stunden lang steigen sie erst im Innern des Gebäudes, dann an einem Bauträger aus Eisenstreben den noch unfertigen Turm hinauf. Höher, immer höher, hinauf in den Nebel, den Smog, treibt es die beiden. Sie schrauben sich im Rausch der Höhe immer weiter bis zur Spitze. Endlich oben angekommen ist ihnen die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. High Five im Höhenrausch.
Auch in Deutschland nimmt der Trend zu, wenn auch langsam. Die Szene sei noch sehr klein, sagt Soziologin Kirchner. »Verbote bringen nichts«, sagt Kirchner, und rät vielmehr zu einer stärkeren Aufklärung und zur Ursachenforschung. Warum Vitaliy sich der Gefahr in großer Höhe aussetzt? »Ich klettere nur, weil ich es mag. Nicht, um berühmt zu werden«, sagte Vitaliy in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk kürzlich. Aber auch er hat seine Kamera immer dabei. Sein neuestes Video vom Shanghai Tower haben über 24 Millionen Menschen angeklickt. So hat er zumindest für einen kurzen Moment das Gefühl der Unsterblichkeit verlängert: In der Höhe und im Netz.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.