Ukrainische Alchemie
Massenbewegung zivilen Ungehorsams oder Ost-West-Konflikt
A ls einen ihrer ersten Akte hob die neue Mehrheit der Rada das Gesetz auf, das die Benutzung nichtukrainischer Sprachen als regionale Amtssprache erlaubte, wenn mehr als 10 Prozent der Bewohner eine solche Sprache sprechen. Das trifft im Wesentlichen die russischsprachigen Regionen, aber auch ungarische, rumänische und andere Minderheiten. Die fühlen sich jetzt durch Ukrainisierung bedroht.
Radikale Agitatoren stürzten in einem vandalistischen Siegesrausch 49 Leninstatuen, sie schwärmen nach Süden und Osten aus, um regionale Verwaltungen zu besetzen. Kämpfer des »Rechten Sektors« erklärten, den Maidan auch weiter halten zu wollen. »Ihr müsst bleiben bis zum Ende«, rief auch Julia Timoschenko und warnte »vor einem frühzeitigen Ende des Kampfes«, ohne sich Sorgen um Differenzierungen zwischen gemäßigten Protestlern und militanten Rechten zu machen.
Fragen für die Verfasstheit der ukrainischen Gesellschaft werden deutlich: Sind die Maidan-Proteste in die Gesellschaft integrierbar? Wohin führt die Verfassungsreform? Wie kann sich eine Regierung zwischen Europäischer Union und Eurasischer Union positionieren? Können und wollen die »global player« eine souveräne Ukraine akzeptieren?
Gezielte Übertreibungen?
Wenn man einem von der Böll-Stiftung auf der Höhe der Eskalation veröffentlichen Aufruf ukrainischer und internationaler Wissenschaftler glauben will, die sich als Spezialisten in Fragen faschistischer, antisemitischer oder sonstiger rechter Bewegungen ausweisen, dann wird der Einfluss rechtsextremer Kräfte auf die Maidan-Bewegung in der internationalen Wahrnehmung überbewertet. Die Unterzeichner »vermuten sogar, dass in einigen Berichten, insbesondere solchen kremlnaher Massenmedien, die übermäßige Betonung der rechtsradikalen Elemente auf dem Kiewer Euromaidan nicht auf antifaschistischen Motiven« beruhe, sondern eine derartige Berichterstattung »paradoxerweise womöglich selbst Ausdruck von imperialistischem Nationalismus, in diesem Falle von dessen russischer Variation« sei. Mit ihrer »gezielten Diskreditierung einer der größten Massenbewegungen zivilen Ungehorsams in der Geschichte Europas liefern die russischen Medienberichte einen Vorwand für die politische Einmischung Moskaus, ja womöglich sogar für eine militärische Intervention Russlands in der Ukraine, ähnlich derjenigen in Georgien 2008«, hieß es da.
Diese Erklärung ist in ihrer Forderung nach Differenzierung ein Versuch, oberflächlichen Übertreibungen entgegenzutreten. Aber schon einen Tag nach der Veröffentlichung konnte man im Leitkommentar der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« lesen: »Der Kampf zwischen dem Janukowitsch-Regime und der Opposition in der Ukraine hat das Zeug, sich zum schwersten Konflikt zwischen Ost und West seit dem Untergang der Sowjetunion zu entwickeln. Das ist, wenn man so will, ein Georgien im geopolitischen Maßstab.«
Mit solchen politischen Funktionalisierungen wird sich der politische Dialog zwischen etablierter parlamentarischer Macht und außerparlamentarischen Formen der Selbsthilfe und Selbstorganisation der Bevölkerung nicht entwickeln lassen. Zweifellos ist die Bewegung des »Euromaidan« eine starke Massenbewegung des zivilen Ungehorsams, aber sie ist nicht die größte in der Geschichte Europas und sie ist erkennbar für Russland auch kein Vorwand für eine Intervention - schon gar nicht »ähnlich derjenigen in Georgien 2008«.
Man wird sich hoffentlich erinnern: Die EU musste einräumen, dass Russland seinerzeit auf georgische Provokationen reagierte. Sinnvoller als mit Verdrehungen Vorurteile gegen Russland zu schüren, wäre ein realistischer Blick in die Bewegung, um deren Dynamik, Potenzial und Zusammensetzung vor dem Hintergrund der politischen Kultur der Ukraine und deren widersprüchliche Beziehungen zu Russland transparent zu machen. Das betrifft insbesondere die anarchische Tradition des Landes von den freien Kosakendörfern am Rande des Zarenreiches über die breite revolutionäre anarchistische Machno-Bewegung vor und während der Oktoberrevolution bis zu den Unruhen der Sowjetzeit. Es ist eine Tradition, die einem Zentralstaatsmodell diametral entgegenläuft - gleich wie der Präsident heißt.
Damit erhebt sich die zweite Frage: In welche Staatsform kann eine solche Tradition münden? Dass ein zentralistischer Nationalstaat unter der Parole »Ukraine für die Ukrainer« dem nicht entspricht, liegt auf der Hand. Umso erklärungsbedürftiger ist, woher der Zuspruch für nationalistische Parolen kommt. Angesichts des realen Pluralismus des Landes könnte eine nationalistische Politik vom Zuschnitt Oleg Tjagniboks nur zu einer Zwangsukrainisierung führen.
Das Land braucht das Gegenteil: einen kooperativen Pluralismus von Regionen mit weitgehenden Selbstverwaltungsrechten. Die Rückführung der Verfassung auf ihre Form von 2004 drängt in diese Richtung. Am Ende dieses Weges taucht die Vision einer Föderation Ukraine auf. Dass eine solche Vision als Spaltungsversuch denunziert wird, nur weil sie von der Kommunistischen Partei und von russischen Politikern aus der Nähe Putins vorgebracht wird, kennzeichnet das unproduktive, nicht an den Problemen der Ukraine orientierte Niveau dieser Beiträge. Wem fiele es ein, Deutschland vor seinem Föderalismus zu warnen?
Klar ist aber, dass auf diesem Weg der Verfassungstransformation noch schwere Konflikte zwischen Traditionen anarchischer Selbstverwaltung, nationalistischen Zentralstaatsideen und Befürwortern eines Föderalstaates auftreten werden. Offen ist, an welchen kulturellen Modellen sich diese Auseinandersetzungen orientieren können. Da sind, allen voran, die demokratischen Werte des nachkolonialen Europas: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Nationalismus, nie wieder Selektion, nie wieder Auschwitz! Das ist der europäische Traum von einer Politik für Menschen, die sich selbst bestimmen, statt einer Politik für Konzerne.
Traum von einer besseren Welt
Dieser seinerzeit im vereinigten Europa verkörperte Anspruch lässt sich im ersten Paragrafen des deutschen Grundgesetzes in seiner klarsten Form lesen: »Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Das ist Versprechen, Vision und Botschaft zugleich. Der Geist dieser Botschaft, verbunden mit der Warmherzigkeit der eigenen Tradition freier Gemeinschaftlichkeit, die sich vom Kollektivzwang der letzten Jahrzehnte befreien will, beflügelte zweifellos die Proteste auf dem Maidan. Das ist der Traum einer guten, vielleicht sogar einer besseren Welt.
Aber ist die Europäische Union, so wie sie heute als Großmacht in spe auftritt, wie sie in ihrer »Nachbarschaftspolitik« und in den Verhandlungen zum »Assoziierungsabkommen« auftrat, noch Botschafter dieser Werte? Es sieht doch eher so aus, dass der nachkoloniale europäische Geist und die heutige EU-Politik, in deren Zuge ihre Anrainer in neokolonialer Manier in Billiglohnländer verwandelt werden, nicht deckungsgleich sind.
Es ist niemandem vorzuwerfen, dass es ihm oder ihr schwerfällt, den Unterschied zwischen Europa und EU zu erkennen, zumal die EU nicht nur mit der Propagierung der europäischen Werte, sondern auch mit dem Traum vom besseren Leben lockt. Nicht anders erging es seinerzeit vielen Ostdeutschen, die erst im Nachhinein erkannten, in welche Falle sie mit der schnellen deutsch-deutschen Vereinigung gelaufen waren. Nicht anders erging es den meisten Newcomern im Zuge des Erweiterungsprozesses der EU, nicht anders der russischen Bevölkerung. Aber so sicher wie seinerzeit für die Ostdeutschen, für die russische Bevölkerung, für die Mehrheit der osteuropäischen Staaten, am Ende auch für Griechenland, Spanien, Portugal, ist auch für die Ukraine, wenn sie sich der EU assoziiert, der Tag absehbar, an dem das Auseinanderklaffen der Botschaft EUROPA und der Realität EU erkennbar wird.
Für Klitschko, Timoschenko, Tjagnibok, die heute diese EU als europäischen Traum verkaufen, ist diese Perspektive eine Hypothek. Sagen wir es so: Der Maidan ist nicht unbedingt identisch mit EU oder Europa. Der Maidan, insbesondere sein nationalistischer Flügel, ist eine potenzielle außerparlamentarische, spontane und unberechenbare Kraft, mit der jede Regierung in Kiew rechnen muss.
Erhebt sich die Frage, wie die »global player« mit einer Ukraine umzugehen beabsichtigen, die ihren Weg sucht. Wie es in den Jahren seit dem Ende der Sowjetunion war, kann man mit Gewinn bei Zbigniew Brzezinski in seinem Buch »The grand chessboard« nachlesen: Wer Eurasien beherrscht, beherrscht die Welt. Um Eurasien zu beherrschen, muss die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich herausgebrochen werden, damit Russland sich als Imperium nicht wieder erholen kann. Diese Strategie galt bis 2008, als Russland der NATO- und der EU-Erweiterung in der Zurückweisung der georgischen Provokationen ein unmissverständliches »Njet« entgegensetzte. Der Versuch der »orange Revolution« 2004 folgte diesem Muster. Inzwischen sind die Figuren neu ausgegeben, nachzulesen in Brzezinskis neuer »Strategic Vision«. Angesichts der Verschiebung des globalen Machtzentrums von West nach Ost, so Brzezinski, und des tendenziellen Niedergangs der Vormacht der USA gehe es nun darum, das Bündnis zur Aufrechterhaltung der westlichen Ordnung durch die Einbeziehung Russlands zu erweitern. Erreichen möchte er das, indem er Russland über seine untrennbare Verbindung zur Ukraine in Abhängigkeit vom atlantischen Bündnis bringt. Der Außenminister der USA, John Kerry, nannte das auf der Münchner Sicherheitskonferenz die »Transatlantische Renaissance«.
Treff für Under-cover-Agenten
Pech für die US-Strategen, dass die EU, allen voran Deutschland, diese neue Strategie erst noch begreifen muss. Anders ist die widersprüchliche Politik der EU nicht zu verstehen. Das gilt insbesondere für das Agieren der deutschen Politik, die einen Klitschko erst öffentlich zum Umsturzkandidaten aufbaut, um ihn dann wieder zu demontieren, die Proteste anfeuert, um am Ende per Feuerwehreinsatz die Radikalisierung einzudämmen.
Mit »fuck the EU« hat US-Diplomatin Victoria Nuland dies auf den Punkt gebracht. Die USA-Regierung erwartet, dass die EU ihre Sache geschickter anfasst, wenn sie es mit den Russen und den Chinesen aufnehmen will, die sich - ganz im Gegensatz zu den von den Medien verbreiteten Märchen - mit offenen Interventionen zurückhalten, aber selbstverständlich auch Einfluss nehmen.
Die Ukraine wird zum Treffpunkt der Under-cover-Agenten aus Ost und West, Europa, Amerika, Russland und Asien. Der innere Pluralismus des Landes setzt sich in einem Stelldichein der »global player« fort, von denen keiner aus seiner imperialen Logik heraus zulassen kann, dass die anderen sich dort festsetzen. Für die Ukraine liegt darin, wenn sie den eigenen Pluralismus zur Stärke zu machen versteht, eine Chance, zu einem Übungsfeld der multipolaren Ordnung zu werden. Was geschieht, wenn sie nicht geschickt ist? Darüber muss jetzt nicht spekuliert werden.
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