Ohne Politiker, Prinzen und Prominente
Russlands Konflikt mit der Ukraine führt kurz vor Beginn der paralympischen Winterspiele zu vielen Absagen
Die Einladung war vor Tagen verschickt worden. Am Samstagmorgen sollte Verena Bentele in Sotschi in die Hall of Fame des paralympischen Sports aufgenommen werden, in einer festlichen Zeremonie, gesponsert von einem weltweit agierenden Kreditkartenunternehmen. Bentele, die bei Winter-Paralympics zwölf Goldmedaillen gewonnen hatte, wird nun nicht ans Schwarze Meer reisen. »Es ist ein ganz klar politisches Zeichen an Russland«, sagte die neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung im ZDF-Morgenmagazin. Sie möchte gegen den militärischen Vorstoß Wladimir Putins auf der ukrainischen Halbinsel Krim protestieren.
In den vergangenen Tagen hat das Internationale Paralympische Komitee (IPC) fast stündlich Absagen erhalten. Die Eröffnung der elften Winter-Paralympics an diesem Freitag wird weitgehend ohne ranghohe Politiker, Prinzen und Prominente auskommen, zumindest ohne jene aus den westlichen Industrienationen. Dass Bentele und die Bundesregierung sich spät diesem Chor anschließen, hat den Deutschen Behindertensportverband nicht wirklich überrascht. »Das war eine politische Entscheidung, die auch meine persönliche Zustimmung findet«, sagte Verbandspräsident Friedhelm Julius Beucher.
Am Freitag beginnen in Sotschi die 11. Winterparalympics. Bis zum 16. März starten rund 600 Athleten aus 45 Ländern in sechs Sportarten. Insgesamt stehen 72 Entscheidungen an. Die Sportler starten je nach Behinderung in fünf Hauptklassen: Blinde/Sehbehinderte, spastisch Gelähmte, Rollstuhlfahrer/Querschnittsgelähmte, Amputierte und anders körperlich Behinderte, geistig Behinderte. Je nach Schwere der Behinderung sind die Hauptklassen in weitere Schadensklassen unterteilt.
Sledge-Eishockey
Hohes Tempo, hoher körperlicher Einsatz und sehenswerte Paraden: Sledge-Eishockey, das seit 1994 zum Programm gehört, hat sich dank seiner vielen spektakulären Aktionen zu einer der Attraktionen bei paralympischen Winterspielen entwickelt. Die Spieler bewegen sich auf Kufenschlitten fort, in jeder Hand einen 85 bis 100 cm langen Schläger, an deren Ende Spikes zur besseren Fortbewegung befestigt sind. Ein Team besteht aus fünf Spielern, die Spielzeit beträgt dreimal 15 Minuten.
Rollstuhl-Curling
Rollstuhl-Curling ist ein junges Mitglied der paralympischen Familie und erst zum dritten Mal dabei. Seit 2002 gibt es Weltmeisterschaften. In dem Wettbewerb treten gemischte Teams gegeneinander an, eine Frau muss mindestens zu jeder Mannschaft gehören. Im Gegensatz zum Curling der Nichtbehinderten wird beim Rollstuhl-Curling nicht gefegt.
Ski Alpin
Die alpinen Skiläufer sind Veteranen im Behindertensport. Bereits vor dem ersten Weltkrieg sollen behinderte Menschen Ski gefahren sein. Die ersten dokumentierten Behindertenmeisterschaften wurden 1948 in Österreich ausgetragen. In Sotschi werden Medaillen in der Abfahrt sowie im Super-G, Riesenslalom, Slalom und in der Super-Kombination vergeben. Dabei werden die Teilnehmer in die drei Kategorien »sehbehindert«, körperbehindert »stehend« und körperbehindert »sitzend« unterteilt. Die sehbehinderten Athleten bewältigen den Kurs mit Hilfe eines Begleitläufers, der durch akustische Signale die Laufrichtung vorgibt. Die Sitzenden nutzen den sogenannten Monoski.
Skilanglauf und Biathlon
Auch im Skilanglauf und Biathlon wird grundsätzlich in drei Kategorien »sehbehindert« sowie körperbehindert »sitzend« und »stehend« unterschieden. Rollstuhlfahrer und stark gehbehinderte Sportler nutzen einen Sit-Ski. Im Biathlon, seit 1988 im Programm, tragen die Sportler aller Kategorien ihr Gewehr auf den Laufrunden nicht bei sich und nehmen es erst am Schießstand auf. Die Scheiben stehen in zehn Metern Entfernung. Die sehbehinderten Sportler, in der Loipe mit Begleitläufern unterwegs, zielen mit Hilfe eines akustischen Signals.
Para-Snowboard
Die Snowboard-Wettbewerbe bei Männern und Frauen werden in Sotschi erstmals ausgetragen. Jeder Athlet fährt in drei Rennen alleine gegen die Zeit. Die beiden besten Läufe werden zum Gesamtergebnis summiert. Es werden nur Sportler mit einer Behinderung der unteren Extremitäten am Start sein. nd/SID
In den Bundestagsfraktionen löste Benteles Ankündigung eine Debatte über die Wirkmächtigkeit eines Boykotts aus, doch auf dem Olympiagelände von Sotschi hielt sich die Aufregung in Grenzen. »Das ist enttäuschend«, sagte Philip Craven, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees. »Es ist schade, dass die Regierung sich da einmischt.« Worte wie diese hat Craven in den vergangenen Tagen immer wieder gebraucht, nachdem anfangs die USA und Großbritannien das Fernbleiben ihrer Minister angekündigt hatten - und ihnen im Laufe der Woche immer mehr Nationen folgten.
Für Philip Craven werden es die letzten Winter-Paralympics als Präsident sein, nach drei Amtszeiten wird er 2017 ausscheiden. Gespannt warten viele der fast sechshundert Athleten in Sotschi auf die Eröffnungsfeier. Wie wird ihr Vordenker dem russischen Präsidenten gegenüber treten? Bislang äußert sich das IPC sehr vage zur Militärintervention ihres Gastgebers. Stattdessen pflegen das Komitee, die nationalen Verbände und deren Sponsoren mit Pressemitteilungen ihren paralympischen Trott. Darin geht es um moderne Schlitten, hohe Fernsehquoten, soziale Medien der Sportler. Ein glaubwürdiges Zeichen der Solidarität für die dreißig Sportler aus der Ukraine, deren Angehörige sich wenige hundert Kilometer weiter vor einem Krieg fürchten, ist nicht zu vernehmen. Stattdessen hofft das IPC auf die »besten Winter-Paralympics aller Zeiten«.
Philip Craven, 1973 Weltmeister im Rollstuhlbasketball, ist 2001 beim IPC angetreten, um den paralympischen Sport global wachsen zu lassen. Einer seiner Lieblingssätze lautet: »Die Welt muss im 21. Jahrhundert zusammenrücken, und die Paralympics sind ein Weg, das zu bewirken.« Der studierte Geograph kann auf sympathische Art vermitteln, wie behinderte Menschen durch Sport ihre Grenzen ausloten. Er hat vor zehn Jahren ein Positionspapier zum Thema Menschenrechte herausgebracht, in dem er gesellschaftliche Teilhabe fordert. Er hat in London die Agitos-Stiftung auf den Weg gebracht, das Wort Agito stammt aus dem Lateinischen: »Ich bewege mich«. Das IPC möchte Kriegsversehrte und Terroropfer für den Sport gewinnen - im Sudan, in Afghanistan oder Syrien.
Was sind diese gesellschaftlichen Maßnahmen wert, wenn Craven die Paralympics nun allein auf Sport reduziert? In einem halbstündigen Interview Mitte Januar, vor dem Konflikt in der Ukraine, verteidigte er die Vergabe der Spiele an Sotschi. Im Quartier des IPC in Bonn sagte er: »Die westlichen Medien sollten einsehen, dass sie die Welt nicht nur aus ihrer Perspektive bewerten können. Sie sollten sich auf die Kultur anderer Länder einlassen. Auch wenn wir gegen politische Grundsätze sind: Wir müssen in diese Länder reisen und über heikle Themen sprechen.« Damals wurde Putin für Enteignung, Korruption und Umweltschäden kritisiert. Inzwischen ist ein Vorstoß dazugekommen, den die westlichen Industrienationen als Völkerrechtsverletzung bewerten.
Die Weltpolitik will der oberste Paralympier den Politikern überlassen, das waren seine Worte nach der Ankunft in Sotschi. Im positiven Sinne aber ist er gern politisch: »Die Paralympics können Barrieren überwinden.« Seit Jahrzehnten leben behinderte Menschen im Schatten der russischen Gesellschaft. Das soll sich nun ändern, auch durch eine intensive Berichterstattung im Staatsfernsehen. Etwa 500 000 Eintrittskarten sollen für die Wettkämpfe in Sotschi schon verkauft worden sein, sagt das russische Regierungsmitglied Dmitri Kosak. Täglich werden Fakten über die neue Barrierefreiheit in der Stadt verbreitet. Gute Nachrichten für das IPC, findet Philip Craven. Und für Russlands Regierende.
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