Drei Lichtjahre nach dem Wahlsieg
Die Aufbruchstimmung ist in Stuttgart längst verflogen
Stuttgart. Es war eine Zeitenwende in Baden-Württemberg: Am 27. März 2011 gelang Grün-Rot bei der Landtagswahl der politische Coup. Die Wähler verwiesen die CDU nach 58 Regierungsjahren in die Opposition. Drei Jahre nach diesem Triumph ist von Aufbruchsstimmung schon lange nichts mehr zu spüren. Die grün-rote Landesregierung mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) an der Spitze müht sich ab auf ihren politischen Baustellen, die sie nach dem Regierungswechsel aufgerissen hat, und führt Abwehrkämpfe an Flanken, die sie selbst dem Angriff preisgaben.
Beispielsweise war es um Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) ruhig geworden, nachdem der Konflikt um das Bahnprojekt Stuttgart 21 kanalisiert worden war. Doch nun, ausgerechnet wenige Wochen vor der Kommunalwahl im »Autofahrerland« Baden-Württemberg, wurde bekannt, dass das Land 2013 mehr Bundesmittel für den Straßenbau hätte bekommen können. Hermann schob die Schuld dem CSU-geführten Bundesverkehrsministerium zu. Dieses habe nicht mehr Baufreigaben erteilt. Die CDU schlachtete das Thema genüsslich aus - Punktsieg für die Opposition.
Anfang des Jahres brach die Debatte über den Stellenwert von sexueller Vielfalt im Bildungsplan für den Schulunterricht los. Auslöser war ein Arbeitspapier aus dem Kultusministerium, das an die Öffentlichkeit gelangt war. Als die Landesregierung die Brisanz erkannte, war es zu spät: Tausende von Menschen unterschrieben Petitionen und gingen auf die Straßen - für und gegen sexuelle Vielfalt. Einfangen ließ sich das Thema nicht mehr. Dabei hat Kultusminister Andreas Stoch (SPD) mit den vielen Bildungsthemen, die ohnehin als Achillesferse der Koalition gelten, schon genug zu tun.
Noch offen ist, wie das Experiment in der Haushaltspolitik ausgeht. Erstmals haben die Ministerien konkrete Sparpläne bekommen, die sie bis zum Sommer mit ihren Einsparvorschlägen unterfüttern sollen, um der Nettonullverschuldung im Jahr 2020 näherzukommen. Es grummelt heftig über alle Ressorts hinweg. Das kleinste Haus, das Integrationsministerium, könnte seine Arbeit faktisch einstellen, wenn es die Vorgaben erfüllen würde, argumentieren Kritiker der Sparpläne. Das Justizressort hofft auf eine Verschiebung seiner Sparauflagen, und andere Ministerien könnten ebenso darauf pochen.
Wie ist die Stimmung in der Koalition? »Sie war schon schlechter«, meinen Grüne. »Sie war schon mal besser«, meinen SPD'ler. Die SPD leidet unter schlechten Umfragewerten, während Kretschmann sich ungebrochener Beliebtheit erfreut. »Die SPD geht ein Stück weit unter in dieser Koalition und ist für Themenbereiche verantwortlich, die in der Landespolitik am problematischsten sind: die Bildungs- und die Haushaltspolitik«, sagt der Kommunikationswissenschaftler von der Universität Hohenheim, Frank Brettschneider. Die Misserfolge der Koalition würden bislang nicht mit dem grünen Regierungschef verknüpft.
Dennoch: Vize-Regierungschef und SPD-Landeschef Nils Schmid ließ schon durchblicken, dass er 2016 mit den Grünen weiterregieren will. Doch reicht es bei der Landtagswahl wieder für eine grün-rote Mehrheit? Insbesondere die Einflüsse der Bundespolitik auf das Land hält Brettschneider für schwer vorhersehbar. Viel hänge auch davon ab, mit wem die CDU als Spitzenkandidat antritt. Ein kleiner Trost für Grün-Rot: Bei der Opposition ist der Machtkampf noch voll im Gange. dpa/nd
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.