Ohne Duldung keine Bibliotheksbücher
Flüchtlinge errichten in Absprache mit evangelischer Gemeinde ein Protestcamp in Göttingen
Jamila Farzaie floh aus Afghanistan, weil sie mit einem 30 Jahre älteren Halbcousin zwangsverheiratet werden sollte. »Er hat mich am Telefon immer wieder terrorisiert«, sagt die 29-Jährige. »Als er mir dann gedroht hat, mich mit Säure zu übergießen, bin ich untergetaucht.« Gemeinsam mit ihrem Bruder kam Jamila 2009 nach Deutschland.
Politisches Asyl hat sie hier bislang nicht erhalten, nur aufgrund ärztlicher Atteste bekam sie Duldungen, die alle paar Monate von der Behörde verlängert werden müssen. »Ich leide an Nervosität, Depressionen, einer posttraumatischen Belastungsstörung und habe ständig Angst davor, abgeschoben zu werden.« Die Afghanin erzählt ihre Geschichte vor einem großen, rund 30 Quadratmeter großen Zelt, das vor der Göttinger Innenstadtkirche St. Jacobi steht. Das Zelt ist Mittelpunkt und Blickfang eines Protestcamps, mit dem Flüchtlinge aus der Universitätsstadt und Nachbargemeinden seit Freitag auf ihre Situation aufmerksam machen wollen. Außen an der Zeltwand hängen Transparente, ein Aktivist verteilt Flugblätter an Passanten, rund ein Dutzend Asylbewerber und ihre Unterstützer sitzen auf den Steinstufen vor der Kirche.
Der Protest richte sich gegen die »unmenschlichen Lebensbedingungen«, denen viele Flüchtlinge ausgesetzt seien, heißt es in einer ersten öffentlichen Erklärung des Camps. Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge seien von Diskriminierung, Isolation in Lagern sowie fehlenden Arbeitsangeboten betroffen. Viele Geflüchtete müssten »ohne Ziel und Lebensperspektive ihren Alltag verbringen und teils sehr lang auf den Bescheid über ihre Asylanträge warten«.
In dem Camp wollen die Flüchtlinge auch mit Einwohnern und Besuchern Göttingens ins Gespräch kommen, sagt Babak Khoram Yousefi. Der 39-jährige Iraner, seine Frau Fatema (35) und die gemeinsame Tochter Mana (10) sind nach eigenen Angaben ebenfalls akut von Abschiebung bedroht. Das Paar konvertierte vor Jahren zum Christentum. Heimlich, wie Babak betont, »denn nicht an den Islam zu glauben, ist bei Todesstrafe im Islam verboten. Wir konnten es noch nicht einmal unserer Tochter erzählen.«
Als 2013 der Pfarrer der kleinen klandestinen Gemeinde in der Provinzhauptstadt Rasht verhaftet wird, taucht die Familie zunächst in Teheran unter, dort helfen Verwandte bei der Flucht ins Ausland: Mit dem Flugzeug geht es zunächst über die Türkei nach Italien, dann weiter im Zug nach Deutschland, wo die Familie Asyl beantragt.
Aber nicht erhält, denn der Antrag wird abgelehnt. »Die Behörden interessierten sich nicht für unsere Fluchtgründe, sondern nur für die Fluchtroute«, sagt Babak. »Weil wir über Italien gekommen sind, wurde uns gesagt, dass dieses Land für uns zuständig ist«. Auch ein Eilantrag auf Aussetzung der Abschiebung aus gesundheitlichen Gründen ist nicht erfolgreich.
»Hier protestiert nicht jeder isoliert für sich, sondern alle betroffenen protestieren gemeinsam«, betont Babak. Das Camp soll zwei Wochen stehen bleiben. Anders als in Hamburg oder Berlin, wo Asylbewerber in den vergangenen Monaten ebenfalls im Stadtgebiet campierten, werden die Göttinger Flüchtlinge vorerst nicht im Zelt übernachten. Probleme mit den Nachbarn erwarten sie nicht, die evangelische St. Jacobi-Gemeinde hat das Camp erlaubt. Die Aktion sei abgesprochen, sagt Pastor Harald Storz, »die dürfen unseren Platz benutzen.«
Inzwischen ist auch die kleine Mana angekommen. Das Mädchen besucht in der Stadt eine Grundschule, wie sie aufgeregt erzählt. »Ich habe in den letzten sieben Monaten Deutsch gelernt und kann mit allen reden«. Auch am Sport- und Schwimmunterricht nimmt sie teil. Nur das Ausleihen von Büchern in der Stadtbibliothek bleibt dem Mädchen verwehrt: »Weil unsere Duldung ausgesetzt ist, und für eine Anmeldung in der Bibliothek brauche ich mindestens eine dreimonatige Duldung.«
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