Das NS-Opfer von Köpenick

Vor 70 Jahren wurde der angebliche Massenmörder Bruno Lüdke getötet

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 8. April 1944 starb im Kriminalmedizinischen Zentralinstitut in Wien unter wohl ungeklärt bleibenden Umständen Bruno Lüdke im Alter von 36 Jahren. Der Berliner war auf Befehl des SS-Reichsführers Heinrich Himmler heimlich in das Labor in der Donaumetropole gebracht worden. Hier sollte von Wissenschaftlern die »Ursache von Untermenschentum«, die »dunklen nichtarischen Seiten« des menschlichen Seins erforscht werden. Dafür galt Lüdke als ideales Versuchsobjekt. Denn der »doofe Bruno«, wie er in seinem Kiez im Berliner Bezirk Köpenick genannt wurde, soll zwischen 1924 und 1943 nach eigenen Geständnissen 84 Morde im gesamten Reichgebiet begangen haben.

Die medizinischen Versuche sollten den Nachweis schädlicher Erbanlagen erbringen. Wahrscheinlich starb Lüdke in einer Unterdruckkammer oder durch eine Giftspritze. Auf dem Totenschein, ausgestellt am 26. April 1944, wird als Todesursache »Herzfleischentartung, Erweiterung der rechten Herzkammer, Herzlähmung« angegeben. Die Akten über Lüdke wurden fast vollständig vernichtet, Spuren verwischt. Sein der gerichtsmedizinischen Sammlung übergebenes Skelett verschwand in den 1960er Jahren spurlos.

Der Fall Lüdke begann mit der Entdeckung einer Frauenleiche am 29. Januar 1943. Die 51-jährige Frieda Rösner war im Wald direkt hinter dem Krankenhaus Köpenick erwürgt und vergewaltigt aufgefunden worden. Bei der Spurensuche landete der ermittelnde Kriminalkommissar Heinrich Franz irgendwann bei Bruno Lüdke. Der geistig Behinderte war kräftig gebaut, auf Staatsanordnung kastriert und arbeitete für seine Mutter, die eine Wäscherei führte, als Kutscher. Er spielte gern mit Kindern, ließ sie auf dem Kutschbock mitfahren, streifte oft allein durch die Wälder und war als friedfertiger, eher ängstlicher Mensch bekannt, der keiner Fliege etwas zuleide tat.

Als er sechs Wochen nach dem Mord verhaftet wurde, gestand er sofort. Kommissar Franz verstand es, den ahnungslosen Lüdke aufs Kreuz zu legen. Er legte ihm die Antworten in den Mund, und Bruno glaubte, wenn er alle Aussagewünsche des Kommissars erfüllen würde, rasch wieder nach Hause zurückkehren zu können. Die Kripo der Reichshauptstadt stand unter Druck durch viele unaufgeklärte Morde. Wer keine Erfolge aufweisen konnte, fand sich schnell an der Ostfront wieder. Kommissar Franz hatte es bis zu diesem Zeitpunkt geschafft, als unabkömmlich zu gelten. Doch das konnte sich von einen Tag auf den anderen ändern. Da kam ihm der »doofe Bruno« gerade recht. Eine Bluttat nach der anderen unterschob der eifrige Kommissar dem geistig überforderten Lüdke. Erst nur für Berlin und dann auch für andere Städte. Die Liste wurde immer länger, der Fall Lüdke zu einer Staatsaffäre. Ursprünglich wollten die Nazis einen monströsen Schauprozess. Propagandaminister Joseph Goebbels forderte, »dass der bestialische Massenmörder und Frauenschlächter keines normalen Henkertodes stirbt. Ich schlage vor, ihn bei lebendigem Leibe verbrennen oder vierteilen zu lassen.« Doch das war eine zweischneidige Angelegenheit. Das NS-Regime hätte zugeben müssen, dass ein Massenmörder über Jahre unerkannt und unbehelligt sein Unwesen treiben konnte. Himmler erklärte die Angelegenheit schließlich zur »geheimen Reichssache«.

In Polizeikreisen waren die »Geständnisse« des Bruno Lüdke höchst umstritten, einer ernsthaften Prüfung hätten sie nicht standgehalten. Lüdke war weder finanziell in der Lage, das Land zu bereisen, auch fehlten ihm die geistigen Fähigkeiten und die logistischen Möglichkeiten dazu. Doch auch nach dem Ende der Naziherrschaft lebte der Mythos vom größten Massenmörder aller Zeiten, vom »Monster in Menschengestalt« in der Bundesrepublik weiter. Artikelserien mit immer neuen »Enthüllungen«, »Dokumentationen« und Kriminalbücher pflegten bewusst oder unbewusst die Ideologie vom »minderwertigen Leben«. Höhepunkt der Lüdke-Hysterie war der 1957 gedrehte Spielfilm »Nachts, wenn der Teufel kam« nach einem gleichnamigen Roman. Der junge Mario Adorf verdankte der Rolle des »doofen Bruno« seinen Aufstieg zu einem Weltstar. Der Streifen erhielt nicht nur den Bundesfilmpreis, er wurde auch für einen Oscar nominiert. Die in der DDR lebenden Schwestern von Lüdke hatten 1957 vergeblich versucht, gegen den Film eine einstweilige Verfügung zu erlassen. Sie berichteten von ihren Begegnungen mit Bruno in der Untersuchungshaft. Dort habe er ihnen erzählt, dass man ihn umbringen wolle, wenn er nicht das sagt, was man von ihm verlangt.

Der DDR-Krimiautor Günter Prodöhl nahm sich 1971 des Falles Lüdke in der Serie »Kriminalfälle ohne Beispiel« an und beschrieb in »Geheime Reichssache Bruno Lüdke«, wie die Nazis Lüdke für ihre Rassentheorie gezielt einsetzten. Der niederländische Kriminalist Jan Blaauw, der in den 1990er Jahren die wenigen noch vorhandenen Akten auswertete, konnte nachweisen, dass Lüdke in einem merkwürdigen Verhältnis von Vertrauen, Abhängigkeit und Hilflosigkeit zum Kriminalkommissar Franz stand. Er hegt starke Zweifel, dass Lüdke überhaupt einen einzigen Mord begangen habe. Krimiautor Horst Bosetzky zeichnete in seinem 2009 erschienenen dokumentarischen Roman »Der Teufel von Köpenick« einen von Misserfolgen geplagten und von seiner Leistung besessenen Kriminalkommissar im Nazireich, der einen Geisteskranken für den Erhalt seiner Karriere ausnutzte.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.