Straßburger Abstimmungsmarathon
Das 7. Europäische Parlament verabschiedet sich mit mehr als 100 Beschlüssen
Arbeit und Wahlkampfgetöse statt Sentimentalität: Mit keinem Wort erwähnte der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz (SPD) am Montag bei der Eröffnung der Sitzungswoche in Straßburg, dass es sich um die letzte Plenartagung in dieser Legislaturperiode handelt. Schulz selbst wird voraussichtlich nie mehr als Präsident der europäischen Volksvertretung Sitzungen eröffnen, viele Abgeordnete werden sich nach Donnerstag nie mehr auf den Sitzen des Plenarsaals lümmeln, sich von ihnen erheben, um einen Wortbeitrag zu leisten, oder fleißig auf den Ja- oder Nein-Knopf bei den oft langwierigen Abstimmungen drücken.
Letzteres werden sie diese Woche aber noch einmal bis zum Abwinken tun können. Über 100 Gesetzestexte bzw. Berichte sollen angenommen oder abgelehnt werden. Viel mehr als üblich. Bevor wegen der Europawahl im Mai für ein paar Monate Ruhe in die Plenarsäle in Straßburg und Brüssel einkehrt - von Renovierungsarbeiten abgesehen -, sollen noch wichtige Projekte abgeschlossen werden. Dazu gehörten am Dienstag etwa verbindliche Seenot-Rettungsregeln für den Umgang der Grenzschutzorganisation Frontex mit Flüchtlingsschiffen. Die Verordnung erlaubt es auch, Flüchtlinge in Drittstaaten zurückzuschicken, unter nur teilweiser Beachtung der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgelegten Garantien. Drittstaaten wie Marokko oder Libyen, die nicht gerade für ihren guten Umgang mit Flüchtlingen bekannt sind, sollen zudem die Grenzen und ihre Kontrolle verstärken.
Auch die zweite Säule der Bankenunion wurde verabschiedet. Mit breiter Mehrheit stimmten die Abgeordneten für den Aufbau eines einheitlichen Mechanismus zur Abwicklung maroder Geldhäuser. Dadurch sollen die Steuerzahler künftig seltener zur Kasse gebeten werden, wenn ein großes Geldinstitut ins Straucheln gerät. Zudem wurde die Richtlinie zur Einlagensicherung verabschiedet. Weitere Themen auf der Tagesordnung waren und sind das Transparenzregister, das Girokonto für alle und die Verwendung von Plastiktüten.
Das Bemühen um einen rechtzeitigen Abschluss von Gesetzen ist in diesem Ausmaß neu. Es hat zu tun mit den erweiterten Rechten, die der Vertrag von Lissabon dem Parlament zuspricht. Bei fast allen Rechtsakten und der Zusammenstellung des EU-Haushalts darf das Parlament jetzt mitentscheiden. Das hat mehr Arbeit bedeutet, mehr Konflikte mit der Kommission und dem Rat, und das Parlament an Grenzen geführt. Etwa bei den Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen. Heftig polterte Schulz gegen die Kürzungen, die die Staats- und Regierungschefs durchdrücken wollten. »Mit uns wird es das nicht geben«, hieß es aus Straßburg, um am Ende doch klein beizugeben.
Deutsche Abgeordnete bewerten den Rechtezuwachs als positiv. »Dass dabei auch der Kommission rote Linien aufgezeigt werden, zeigt sich beispielsweise beim ACTA-Abkommen oder der Herausnahme des Kulturbereichs aus dem Mandat für die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit den USA«, bilanziert Helmut Scholz (LINKE). »Die vergangenen fünf Jahre waren mit Sicherheit und auch wegen der neuen Rechte aus dem Lissabon-Vertrag die sichtbarsten Jahre des Europäischen Parlaments«, meint Jan Philipp Albrecht (Grüne).
Thematisch stand die Legislaturperiode unter dem Eindruck der Finanz-, Wirtschafts- und sozialen Krise in der Union. Dass darüber die Arbeit in anderen Bereichen gelitten hat, lässt Evelyne Gebhardt (SPD) anklingen. »Die Fortschritte bei den Arbeitnehmerrechten und in der Sozialgesetzgebung sind äußerst gemischt zu bewerten, eher negativ als positiv«, beklagt sie gegenüber »nd«. Das habe vor allem an den Mehrheitsverhältnissen im Parlament gelegen. Sprich: an der Blockade von Konservativen und Liberalen.
Markus Ferber (CSU) wirft dagegen »linken Minderheiten« vor, größere Fortschritte bei der EU-Außen- und Sicherheitspolitik verhindert zu haben. Albrecht kritisiert Sozialisten und Konservative gemeinsam, sich allzu häufig als Verteidiger ihrer nationalen Regierungen betätigt zu haben. Und Schulz, der als Spitzenkandidat der Sozialisten bei den Wahlen antritt, wurde bei der Sitzungseröffnung am Montag Fehlverhalten aus dem vergangenen Jahr vorgeworfen. Der Wahlkampf ist in vollem Gange.
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