Zuhause auf dem Spielplatz
Ein Ex-Obdachloser zeigt bei Stadtführungen durch Berlin sein einstiges Revier
Ein hölzernes Abenteuerschiff war zwei Jahre lang sein Zuhause. Klaus Seilwinder rollte hier jeden Abend seine Isomatte und seinen Schlafsack aus: auf einem Spielplatz mitten in Berlin. Es war sein bester Schlafplatz in acht Jahren auf der Straße. Seit kurzem lebt der 57-Jährige wieder in einer Wohnung. Nun will er Fremden bei Stadtführungen erklären, was es bedeutet, ohne Bett oder Dusche dazustehen, ohne Platz zum Aufwärmen oder eine Tür zum Zumachen.
Klaus Seilwinder steht auf dem Spielplatz, dort, wo er früher »gewohnt« hat. Seilwinder schaut sich um. Das Schiff ist verschwunden, stattdessen stehen einige neue, rot angepinselte Klettergerüste im Sand. Auch das Gebüsch, in dem er seinen »Bunker« hatte, ist nicht mehr da. Dort versteckte er tagsüber immer sein Hab und Gut: Isomatte, Schlafsack, Klamotten zum Wechseln, ein kleines Radio, einen Kulturbeutel mit Zahnbürste und Rasierer.
Hier wird Seilwinder demnächst auf seinen Touren haltmachen und aus seinem früheren Leben erzählen. Mit Mitte 40 landete er auf der Straße. Der Job war weg, er ging nach Berlin, und hier entglitt ihm irgendwie das Leben. Warum, weiß er selbst nicht mehr so genau. Jahrzehntelang war Seilwinder Alkoholiker, seit zwei Jahren ist er trocken. Ein Freund half ihm, sein Leben neu zu ordnen.
Vom Spielplatz aus spaziert Seilwinder Richtung Gendarmenmarkt. Das war damals sein Weg an jedem Morgen - zum Zähneputzen in einer öffentlichen Toilette. Unterwegs beugt er sich über jeden Mülleimer, auf der Suche nach Pfandflaschen. »Das kann ich nicht lassen.« Und im Vorbeigehen greift er auch immer noch bei jedem Parkscheinautomaten ins Münzfach - für den Fall, dass jemand Geld liegen gelassen hat. Alte Gewohnheit. Früher legte Seilwinder jeden Tag Dutzende Kilometer durch die Stadt zurück, um Flaschen zu sammeln. 14 bis 15 Stunden war er unterwegs. Der Pfand war seine einzige Einnahmequelle. Papiere hatte er nicht und deshalb auch kein Hartz IV. Betteln wollte er nicht. Auch das Flaschensammeln fiel ihm anfangs schwer. »Ich habe mich so geschämt, in jeden Mülleimer zu greifen«, sagt er. »Aber du gewöhnst dich dran. Du musst ja irgendwie überleben.«
Einmal fand er in einem Mülleimer vor einer Bank ein Handy. Es klingelte, die Besitzerin war dran, er brachte ihr das Telefon und bekam 450 Euro Finderlohn. Seitdem ist diese orangefarbene Tonne sein »Lieblingsmülleimer«. Seilwinder hat viele solche Geschichten zu erzählen. Von einer Mitarbeiterin, die ihn beim Konzert seiner Lieblingssaxofonistin hinter die Bühne schleuste. Von einem Passanten, der ihn auf eine heiße Schokolade ins vornehmste Café am Gendarmenmarkt einlud. Von Streifenpolizisten, die ihm Kaffee mitbrachten.
Aber er hat auch viel Übles erlebt: Beschimpfungen, Pöbeleien, Schläge von Neonazis. Einmal stahlen ihm Unbekannte alle Habseligkeiten. Und dann die bösen Blicke von Passanten, angewiderte Blicke oder ausweichende, so als sei er gar nicht da. Leben auf der Straße - das klingt für Seilwinder nicht ganz passend: »Es ist eigentlich nichts anderes als Überleben. Man muss jeden Tag kämpfen.«
Wie viele Menschen in Deutschland ohne eigene Wohnung leben, dazu gibt es keine offizielle Statistik, sondern nur Schätzungen. Der letzte Stand: 284 000 Menschen waren 2012 ohne Wohnung, etwa 17 000 davon in Berlin. Und etwa 24 000 lebten bundesweit ohne jede Unterkunft, also wirklich »auf der Straße«. Das schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.
Die Zahlen gehen seit Jahren nach oben, auch weiterhin. Den Schätzungen nach werden 2016 sogar 380 000 Menschen keine Wohnung haben. Die Gründe: immer weniger bezahlbare Wohnungen, immer mehr Menschen mit Niedriglöhnen, steigende Strompreise, die mit Hartz IV nicht zu schultern sind.
Seilwinder will erklären, was es heißt, einer von diesen Zehntausenden zu sein. Was es heißt, wenn zum Aufwärmen im Winter nur die U-Bahnstation bleibt, wenn die Toilette in der Staatsbibliothek der Ort ist, um sich mal richtig zu waschen. Gemeinsam mit einem professionellen Stadtführer bietet er in den nächsten Monaten seine Touren an - durch sein altes Revier und mit Stopps an Einrichtungen für Obdachlose, organisiert von der Gebewo, einem sozialem Träger der Wohnungslosenhilfe.
Dieter Puhl leitet die Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo und kümmert sich dort jeden Tag um Hunderte Menschen, die kein Zuhause haben. Stadtführungen wie die von Seilwinder findet er gut. Das schärfe die Sinne, meint er. Die meisten Menschen gingen an Obdachlosen vorbei, ohne hinzusehen, ohne sich über deren Elend Gedanken zu machen. Warum? Viele Leute hätten in ihrem Alltag schon Probleme genug, sagt Puhl. »Sie wollen nicht auch noch sehen, wie Menschen auf Berlins Straßen verfaulen. Wenn man jemanden sieht, dem die Füße abfallen, das muss man erst mal emotional verkraften.« Wegschauen ist einfacher.
Bei eisiger Kälte scheinen die Probleme für Obdachlose auf den ersten Blick am größten. Doch das täuscht, sagt Puhl. Minus zehn Grad trockener Frost könnten weniger schlimm sein als ein nasser Oktober oder ein verregneter April. Tagelang mit durchgeweichten Klamotten herumlaufen, erst eine Erkältung, dann Fieber und trotzdem weiter durch die Stadt - das sei gefährlich. »Man kann auch im Juli nach einem Platzregen an einer Lungenentzündung sterben, wenn man auf der Straße lebt«, sagt Puhl.
Im Winter gibt es in Berlin ein paar Hundert Plätze in Notunterkünften für Obdachlose, den Rest des Jahres sind es nur ein paar Dutzend. Das Leben ohne Dach über dem Kopf sei nicht nur in den Wintermonaten ein riesiges Problem, sondern das ganze Jahr über, sagt Lina Antje Gühne von der Gebewo. »Das wird ganz stark unterschätzt.« Auch darauf sollen die Stadtführungen aufmerksam machen - und sie sollen die Menschen dazu bewegen, mehr hinzusehen, sich mit den Problemen der Obdachlosen auseinanderzusetzen.
Aber nicht jeder schaue weg, sagt Seilwinder. Damals in seinem Holzschiff wachte er eines Morgens auf, und ein Mädchen stand vor ihm. Wer er sei, was er da mache, wollte die Kleine wissen. Seilwinder antwortete. Das Mädchen lief davon und kam mit einer Thermoskanne Kaffee zurück, nahm ihn danach mit zu den Eltern. »Und heute bin ich jeden Sonntag zum Essen dort«, erzählt er. »Das ist jetzt meine Patenfamilie.« dpa
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