Mythos, Rausch und Reaktion

Zuwachs auf dem katholischen Kirchenschiff: Zwei Heilige mehr an Bord

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 6 Min.

Zugegeben: Die Hauptüberschrift ist geklaut. Aber sie passt hervorragend. Außerdem: Angesichts der Tatsache, dass die katholische Kirche vom Ablass bis zum Zeremoniell so gut wie alles geklaut hat, dürfte es sich um eine eher lässliche Sünde handeln. Dass diese Organisation nichts Originäres hervor und zustande gebracht hat, ist heute eine Binsenwahrheit, die in Form der Werke von Kennern biblischen Budenzaubers wie Karlheinz Deschner oder Hubertus Mynarek ganze Regalreihen füllt.

»Mythos, Rausch und Reaktion« ist der Titel eines Buches, das Anfang der 1960er Jahre erschien und sich mit Leben und Werk Gottfried Benns und Ernst Jüngers befasst. Um diese beiden Dichter soll es indes hier nicht gehen. Obwohl ... Gottfried Benn beschwor »das uralte Menschheitsverlangen nach Überwindung unerträglicher Spannungen, solcher zwischen Außen und Innen, zwischen Gott und Nicht-Gott, zwischen Ich und Wirklichkeit«. Und Ernst Jünger schrieb einmal vom »Superlativ ohne Pause«, von den »grellen Flächen ohne Schatten«, dem »Stemmen von Papphanteln«. Zwar meinte er damit den damals die Kunstwelt dominierenden Expressionismus. Gleichwohl ist diese Charakterisierung auch für die katholische Kirche eine durchaus treffende und zutreffende.

Denn die Welt der Superlative, der blendend-grellen Flächen, vor denen schwerlastig-schwülstige Scheinprobleme Papphanteln gleich ins Licht gehoben werden - das ist seit Jahrhunderten die Welt der römischen Hofhaltung, der Glanzsucht und der Gloriolen, des anmaßenden Amalgams aus Gottesstellvertreterschaft, Machtvollkommenheit und Menschenverkommenheit. Es ist die Welt, deren »zwischen Gott und Nicht-Gott« oszillierender Irr-Sinn auch Anno Domini Nostri Iesu Christi 2014 ungebärdig und ungeniert die Massen ergreift, um die Tristesse des Tagesgeschäfts mit einem Hauch von Transzendenz und Metaphysik zu durchwehen.

»Ad honorem Sanctae et Invididuae Trinitatis ...« - »Zur Ehre der Allerheiligsten Dreifaltigkeit ...«: So wird es an diesem Sonntag wieder über Berninis Kolonnaden schallen, wenn Papst Franziskus die Formel deklamiert, mit der er seine toten Amtskollegen Johannes XXIII. und Johannes Paul II. »heiligspricht«. Vor Zehntausenden auf dem Petersplatz und Millionen vor Fernsehern, Smartphones, Tablet-PCs. Reaktionärer Rausch trifft revolutionäre Technik. Mythos als Mobile App.

Nicht nur (Gut?-)Gläubige und Kirchenfürsten en masse, auch Regierende aus aller Welt werden sich an den wabernden Weihrauchschwaden delektieren und dank des numinosen Nebels die Bürde der Staatslenkung umso leichter tragen.

Natürlich ist der Heiligenkult der römischen Kirche gleichfalls geklaut. Durch feindliche Übernahme des heidnisch-antiken Heroenkultes schuf sich die neue Hierarchie ein Heer illustrer Helfershelfer, die noch aus dem Jenseits den Anbetungswahn des Glaubensvolkes befriedigen sollten. »Die alten Götter ziehen ein, nur mit neuen Masken«, bemerkte sarkastisch der protestantische Theologe Karl Gustav Adolf Harnack.

Die Liste der Tausenden katholischen Heiligen und Seligen ist mittlerweile so lang, dass selbst die Statistiken der Una Sancta darüber keine zuverlässige Auskunft geben können. Papst Johannes Paul II. schaffte es in einem in der Kirchengeschichte präzedenzlosen Beatifikations- und Kanonisierungsexzess, diese Liste um 1820 Namen zu erweitern. Nun wird er selbst ein Heiliger. Mythos war er ja längst, seit er im unerschütterlichen Bündnis mit Gott und der CIA mehr oder weniger maßgeblich dazu beigetragen hat, dem kommunistischen Koloss die tönernen Füße wegzuhauen. Und er schaffte es, die zu Beginn seines Pontifikats noch verhalten vom Geist des Konzils durchwehte Weltkirche weitgehend auf den traditionalistisch-restaurativen Marien- und Heiligenkatholizismus seiner polnischen Heimat zu zwingen. Dass er nebenbei nach seinem Ableben 2005 noch zwei Wunderheilungen wirkte ... Geschenkt.

Immerhin: Papst Franziskus, der große Ausgleicher aus Südamerika, weiß solch Extrem abzumildern und stellt dem fanatischen Fundamentalisten aus Ost- am Sonntag den begnadeten Balancierer aus Südeuropa zur Seite: Papst Johannes XXIII., Initiator des Zweiten Vatikanischen Konzils, dem der Ruf des größten Reformers und Erneuerers der Romkirche im 20. Jahrhundert anhaftet. Ein bäuerlich-leutseliger Pykniker aus der Lombardei, der im Alter von 76 Jahren vom Konklave eigentlich nur deshalb auf den Stuhl Petri gehievt worden war, um der Kirche eine möglichst ereignisfreie Atempause zu verschaffen. Hatte doch sein Vorgänger, der notorische Antikommunist Pius XII., bei seinem Tod 1958 eine hoffnungslos antiquierte Anstalt hinterlassen, die in den Herausforderungen des Kalten Krieges und der Systemauseinandersetzung kaum noch eine ernst zu nehmende Größe darstellte. Dem seinerzeit besonders in Ländern Afrikas und Asiens wachsenden Interesse an Idee und Praxis des Sozialismus musste Rom einen attraktiveren Widerpart bieten. Zudem sahen protestantische Kreise in der Kooperation mit dem jahrhundertelangen Glaubensgegner eine Stärkung des gesamten christlich-kirchlichen Einflusses in der Welt.

Dass Franziskus diese beiden, gemeiniglich die Hauptflügel seiner Kirche repräsentierenden Figuren im Doppelpack kanonisiert, galt zunächst als Überraschung. Was wiederum überrascht. Denn Jorge Mario Bergoglios größte Sorge seit seinem Amtsantritt vor gut einem Jahr war es schließlich, keinen vor den Kopf zu stoßen. Zwar hatte sein Wunsch nach einer »armen Kirche für die Armen« Teile des etablierten Klerus kurz beunruhigt. Aber ist irgendwer in der Kirche ärmer oder gar arm geworden? Kurienkardinal Tarcisio Bertone, langjähriger tollpatschiger Kardinalstaatssekretär von Benedikt XVI., lässt sich gerade ein neues Luxusappartment im Vatikan herrichten. Nein, wegnehmen will und wird Franziskus niemandem etwas.

Und das, obwohl der Italo-Argentinier sein Pontifikat mit einem dreisten Diebstahl begann. Der Jesuit, dessen Orden erst im Zuge der Gegenreformation 1534 geschaffen worden war, usurpierte und okkupierte den Namen des Gründers der über 300 Jahre älteren Mönchsgemeinschaft der Franziskaner. Immerhin hatte es Jahrhunderte harter propagandistisch-glättender Arbeit bedurft, um die bizarre Büßergestalt des Franz von Assisi zu dem inzwischen wohl populärsten Heiligen hinzubiegen, auf den sich heute selbst Grüne und Tierschützer berufen.

So erhellt diese doppelte Heiligsprechung denn auch weniger die Strahlkraft der beiden Geheiligten als vielmehr die zwei konträren Seiten des kanonisierenden Pontifex. Das Jonglieren, Lavieren, Taktieren; die demonstrative Kultivierung und Zelebrierung von Bescheidenheit und Armut, die sich in schwarzen Straßenschuhen, Mittelklassewagen und Blechkreuz symbolisieren; dieses ganze populistische Pathos des Banalen verfehlte indes seine Wirkung auf die die veröffentlichte Meinung prägenden Medien nicht. Im Gegenteil: Diese ergriffen begierig die Gelegenheit, nach den glanz- und glücklosen Skandaljahren des Joseph Ratzinger endlich wieder eine »Weltautorität« präsentieren zu können, die fernab von Politgezänk und Parteienhader dem Blick auf das Sein Halt gibt. Einen schon zu Lebzeiten fast heiligen Mann, der den Armen die Füße wäscht und zugleich der Geldwaschmaschine Vatikanbank die Zukunft sichert; der stets milde Worte für die Sünder findet und den schärfsten ideologischen Einpeitscher im Kirchenstaat, den deutschen Kardinal Gerhard Ludwig Müller, auf dem Posten des Inquisitionschefs belässt.

Und was Ratzinger betrifft: Der ist zwar weg vom Stuhl, dem Heiligen, aber längst nicht vom sprichwörtlichen Fenster. Bei der ersten Enzyklika seines Nachfolgers fungierte er als Koautor, er trifft sich immer wieder mit Franziskus (Auch bei der Heiligsprechung soll er dabei sein). Kurienerzbischof Georg Gänswein sorgt für den kontinuierlichen Meinungsaustausch. Denn Kontinuität ist das Lebenselixier der römischen Kirche.

Die Bühne ist dieselbe, Mitwirkende und Komparsen sind geblieben. Nur der Hauptdarsteller wurde gewechselt. Mit gewinnender Gestik und beschwörender Stimme deklamiert er einen Text mit Einschüben und Veränderungen. Das Stück, das gespielt wird, ist allerdings noch immer dasselbe. Auch wenn große Teile des Publikums das nicht merken.

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