Im Bürgerkrieg sind weder Wahlen noch Referenden möglich
Sergej Kirichuk: Die neuen Machthaber in Kiew müssen die Rechte der Bevölkerung im Südosten der Ukraine respektieren
nd: Ist mit den Geschehnissen der letzten Tage in der Ukraine die Schwelle zum Bürgerkrieg bereits überschritten?
Kirichuk: Ja. Es gibt zwei Seiten, die bewaffnet sind und aufeinander schießen. Es ist ein richtiger Krieg.
Hat die Ukraine demnach noch eine gemeinsame Zukunft?
Wenn die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte der Menschen im Südosten respektiert würden, dann ja. Aber die selbsternannte Regierung in Kiew denkt nicht im Traum daran. Sollte sie den militärischen Konflikt gewinnen, gäbe es wahrscheinlich eine Situation, in der die Regierung über weite Teile des Landes sehr viele Jahre keine wirkliche Kontrolle hätte, ähnlich wie das lange Zeit in Nordirland der Fall war.
In westlichen Medien ist immer von »Separatisten« die Rede, in russischen von »Föderalisten«. Was wollen die Menschen im Südosten der Ukraine wirklich?
Ich glaube, die meisten wollen nicht Teil Russlands sein, sie wollen vielmehr, dass ihre Rechte respektiert werden. Außerdem wissen die Leute, dass die Wurzel der Probleme die Oligarchie ist.
Was hat sich durch den Sieg des »Euromaidans« in Kiew im Südosten verändert?
Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme sind geblieben und der Nationalismus ist als neues Problem dazugekommen. Oligarchen sind zu Gouverneuren gemacht worden und fangen an, Privatarmeen aufzustellen. Ein interessanter Widerspruch, da Kiew Föderalismus eigentlich strikt ablehnt.
Am 25. Mai soll es in der Ukraine Präsidentschaftswahlen geben. Was denken Sie darüber?
Diese Wahlen sollten nicht anerkannt werden, denn es herrscht eine Atmosphäre massiver Gewalt. Sowohl der Hauptsitz von »Borotba« als auch der der Kommunistischen Partei in Kiew waren von Neonazis besetzt. Ein prorussischer Kandidat wurde nach einer Fernsehansprache von Neonazis angegriffen und geschlagen. Mit Messern zerschnitten sie seine Kleidung.
Im Südosten wurden für diesen Sonntag Referenden anberaumt. Was halten Sie davon?
Das ist eine schwierige Frage. Als es den Machtwechsel in Kiew gab, war es eine gute Idee, die Leute zu befragen. Aber jetzt, da Kiew massiv mit der Armee angreift, will niemand einen Deal mit diesen Leuten machen. Einige wünschen sich, dass die russische Armee eingreift, nicht weil sie zu Russland gehören wollen oder Putin gut finden, sondern einfach, damit ihr Leben gerettet und ihre Sicherheit garantiert ist.
Welche Fragen sollten der Bevölkerung denn gestellt werden?
Ursprünglich standen drei Fragen zur Debatte: Ob man eine Föderalisierung der Ukraine unterstützt, ob man die Gleichheit der Sprachen unterstützt und ob man dafür ist, dass die Ukraine keinem Militärbündnis beitritt. Mittlerweile gibt es aber auch radikale Kräfte, die über einen Anschluss an Russland abstimmen lassen wollen. Wir wollen das nicht, sondern treten für die Souveränität der Ukraine ein. Während des offenen Bürgerkriegs ist ein solches Referendum aber völlig unmöglich.
Der Internationale Währungsfonds fordert von der Ukraine einen harten Sparkurs als Voraussetzung für neue Kredite. Hätte das Land unter diesen Bedingungen überhaupt eine wirtschaftliche Perspektive?
Nein. Und bei den Protesten muss man verstehen, dass es für viele Menschen auch um ihre Arbeitsplätze geht. Im Südosten werden immer noch viele Hochtechnologie-Produkte produziert, darunter Flugzeuge oder Weltraumraketen, die ihre Absatzmärkte in Russland oder asiatischen Staaten haben, aber nicht in der EU verkauft werden können.
Wie homogen ist eigentlich die Kiewer Regierung?
Da gibt es auch einen Bruch. Julia Timoschenko will unbedingt Präsidentin werden, ist aber in Umfragen weit abgeschlagen. Für Macht tut diese Frau alles. Außerdem hat die Regierung Rechtsradikale benutzt und bewaffnet. Mich würde es nicht wundern, wenn diese Kräfte irgendwann selbst putschen würden.
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