Rebellen oder Terroristen?
In Peru stehen Revisionsverfahren gegen die Führungen der Guerillagruppen MRTA und »Leuchtender Pfad« vor dem Abschluss
Bereits Mitte Juni wurde in Callao sein Nachfolger an der Spitze des »Leuchtenden Pfads« verurteilt. Der heißt mit bürgerlichem Namen Oscar Ramírez Durand und nannte sich im Untergrund »Presidente Feliciano«. Durand kam verhältnismäßig glimpflich davon: Er erhielt lediglich eine Gefängnisstrafe von 24 Jahren, weil er gegen seine ehemaligen Genossen ausgesagt und sich vom revolutionären Kampf distanziert hatte.
Zuvor wurden in Callao bereits Victor Polay, Gründer der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA), und andere Führer der Organisation in zweiter Instanz verurteilt. Nach 15 Jahren Isolationshaft in Callao dürfen sie in ein anderes Gefängnis umziehen.
Das steinerne Grab
Das Gerichtsgebäude in der Marinebasis ist ein flacher, unansehnlicher Betonkasten. Am Tag der Verkündung des Urteils gegen die MRTA-Führer sammeln sich dort etwa 75 Prozessbeobachter: Angehörige der Gefangenen, Sympathisanten und ein paar Journalisten. Einige ältere Damen, die Mütter der Angeklagten, haben sich auf Bänke gesetzt. Ganz vorne Otilia Campos, die Mutter Victor Polays. Ihr Sohn war nach seiner Festnahme 1992 von einem militärischen Schnellgericht wegen schwerem Terrorismus zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Sämtliche Prozesse gegen die MRTA und den »Leuchtenden Pfad« liefen damals - zur Zeit der Diktatur Alberto Fujimoros - nach dem gleichen Muster ab: Die Angeklagten wurden zum Teil in Raubtierkäfigen einem Richter mit verhülltem Gesicht gegenübergestellt, um vorher feststehende Urteile zu hören.
In ein steinernes Grab sei ihr Sohn damals eingeschlossen worden, sagt Otilia Campos. Damit meint sie die winzige Zelle, die Victor Polay in der Marinebasis bezog. Sie maß weniger als vier Quadratmeter, ihre Wände bestanden aus 70 Zentimeter dickem Beton. Bis zum Ende der Diktatur des Präsidenten Alberto Fujimori saßen Polay und die ehemaligen Mitglieder des MRTA-Zentralkomitees Peter Cardenas und Miguel Rincón in strenger Isolationshaft.
Während Abímael Guzmán eine geräumige Zelle mit seiner Lebensgefährtin Elena Iparaguirre teilen durfte, weil er im Fernsehen seine Niederlage eingestanden und dem Fujimori-Regime gratuliert hatte, erhielt Polay mehrere Todesdrohungen, weil er sich unbeugsam zeigte. So stellten ihn seine Bewacher 1993 während eines Hubschrauberflugs mit verbundenen Augen vor die geöffnete Ausstiegsluke und drohten, ihn hinauszuwerfen. Fujimori erzählte öffentlich, Polay habe sich dabei in die Hose gemacht.
Erst nach Fujimoris Flucht im Dezember 2000 verbesserten sich die Haftbedingungen für die drei MRTA-Gefangenen. Doch es dauerte fünf weitere Jahre, bis Revisionsverfahren gegen die Führungen beider Organisationen begannen.
Jetzt endlich wird der Zuschauersaal geöffnet. Er ist durch eine dicke Glasscheibe vom Verhandlungsraum getrennt, in dem die 15 Angeklagten mit dem Rücken zu den Zuschauern Platz genommen haben. Sie drehen sich um und winken ihren Angehörigen zu. Ihnen gegenüber sitzen drei Richter, an den Wänden stehen schwer bewaffnete Sicherheitskräfte. Eine Justizangestellte beginnt mit der Lektüre des Urteils. Detailliert listet sie alle Untaten der MRTA auf. Es ist fast alles dabei, was das Strafgesetzbuch bietet: Überfälle, Entführungen, Lösegelderpressung, ein Raketenangriff auf den Regierungspalast, Brandstiftung, Bombenattentate, Angriffe auf Polizei- und Armee-Einheiten, Mord und bewaffnete Dorfbesetzungen.
Das Gericht sieht den Tatbestand des Terrorismus als erfüllt an, unter anderem deshalb, weil die MRTA sich nicht gegen eine Diktatur, sondern gegen demokratisch gewählte Regierungen erhob. Die Strategie der Verteidigung, die auf eine Verurteilung wegen Rebellion zielte, ein Delikt mit geringeren Haftstrafen, ist damit gescheitert. Polays Anwalt César Oyola erklärt nach Ende der Verhandlung, der Tatbestand des Terrorismus setze voraus, dass sich bewaffnete Aktionen gegen die Bevölkerung richteten. Das sei bei der MRTA niemals der Fall gewesen. Tatsächlich überfiel die MRTA in ihren ersten Aktionen Supermärkte und Banken und verteilte die Beute anschließend in den Armenvierteln. Mit dem Aufbau einer Guerilla wurde es allerdings immer schwieriger, die Bevölkerung zu schützen. In ihrer besten Phase, Ende der 80er Jahre, kämpften in der MRTA nach eigenen Angaben etwa 1500 Guerilleros. Sie waren vor allem in der urwaldreichen nordperuanischen Region San Martín aktiv.
»Blutzoll« und Rache
Die MRTA strebte eine sozialistische Revolution an, in der die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Menschenrechte garantiert werden sollten. Sie nahm 1984 auch deshalb den bewaffneten Kampf auf, weil die Armee bei der Verfolgung des »Leuchtenden Pfads« immer mehr gegen die Zivilbevölkerung vorging. Der »Leuchtende Pfad« hatte bereits 1980 einen Volkskrieg ausgerufen. Und im Gegensatz zur MRTA schreckten die Maoisten nicht vor extremer Gewalt zurück: Folter, Misshandlungen oder exemplarische Hinrichtungen galten als strategische Maßnahmen zur Bestrafung und Einschüchterung der Zivilbevölkerung. Auf das Konto des »Leuchtenden Pfads«, der von einem für die Revolution zu zahlenden »Blutzoll« sprach, gingen bis 1992 nach Zählungen der peruanischen Wahrheitskommission mehr als 45 000 Tote. Dem damals kultartig verehrten »Presidente Gonzalo« wird vorgeworfen, 1983 persönlich die Liquidierung der 62 Bewohner des Andendorfes Lucanamarca angeordnet zu haben, weil sie seinen Leuten die Unterstützung versagten.
Doch auch die MRTA geriet in den Strudel der Gewalt. 1989, bei einem Gefecht mit der Armee in Los Molinos, einem Ort im Hochland, wurden 58 Guerilleros erschossen, die sich nach Zeugenaussagen angesichts der Übermacht der Armee zuvor ergeben hatten. Die MRTA ermordete anschließend in einem Racheakt den Oberkommandierenden der Streitkräfte. Insgesamt bescheinigt aber auch die Wahrheitskommission der MRTA, dass sie in der Tradition der lateinamerikanischen Guerilla versuchte, die Zivilbevölkerung aus dem Konflikt herauszuhalten.
Für die letzte Aktion der MRTA galt das nicht: Ende 1996 besetzte ein Kommando unter Führung von Nestor Cerpa die Residenz des japanischen Botschafters und nahm über hundert Geiseln, um die Freiheit für Victor Polay und die anderen Gefangenen zu erzwingen. Die Armee stürmte das Gebäude und erschoss alle 14 Mitglieder des MRTA-Kommandos. Einige von ihnen wurden Zeugenberichten zufolge hingerichtet, nachdem sie sich ergeben hatten. Derweil überlebten die Geiseln bis auf eine Ausnahme: Eine erlag später einem bei dem Angriff erlittenen Herzinfarkt.
Aber anders als im Fall des Sendero-Führers Ramírez Durand lässt das Gericht für die MRTA keine mildernden Umstände gelten: Victor Polay und Miguel Rincón werden zu jeweils 32 Jahren Gefängnis verurteilt. Cardenas und zwei weitere ehemalige Führungskader bekommen Haftstrafen zwischen 23 und 28 Jahren, die bloße Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bringt sieben weiteren Angeklagten über 15 Jahre ein. Im Zuschauerraum fließen Tränen. Victor Polay erklärt anschließend unter großem Beifall, er sei wie seine Genossen Rebell und kein Terrorist. Fast alle Verurteilten wollen in letzter Instanz den obersten Gerichtshof anrufen. Doch auch der Staatsanwalt geht in die Berufung. Er besteht auf lebenslanger Haft für die Anführer.
Die unbehelligt bleiben
Während die Justiz Militante aus den Reihen des »Leuchtenden Pfads« und der MRTA ohne jede Differenzierung als Terroristen verurteilt, fasst sie die Mörder, Folterer und Vergewaltiger aus den Reihen der Armee mit Samthandschuhen an. Die freuen sich - bis auf wenige Ausnahmen - weiterhin über Straffreiheit, obwohl die Wahrheitskommission den Streitkräften systematische Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs und die direkte Verantwortung für nicht weniger als 15 000 Tote bescheinigt hat. Doch die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament befindet bis heute, die Armee habe die Demokratie in Peru gerettet.
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