Für das Seelenheil der Reichen

Die Augsburger Fuggerei gilt als älteste Siedlung der Welt für Menschen, die von ihrem Einkommen nicht leben können

  • Ralf Hutter
  • Lesedauer: 7 Min.

Es war für mich wie ein Sechser im Lotto, dass ich hier rein durfte.« Die Augsburgerin Brigitte Hahn ist sehr froh über ihr Lebensumfeld. Im sechsten Jahr wohnt die 70-Jährige nun in der Fuggerei, der angeblich ältesten Siedlung der Welt für Bedürftige. Vor fast 500 Jahren stiftete Jakob Fugger (1459-1525), der wohl berühmteste der berühmten Augsburger Kaufleute dieses Namens, diese Wohnstatt für Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren. Es handelt sich dabei bis heute nicht um eine Art Armenhaus, sondern um eine Hilfe für Menschen, die von ihrem Einkommen nicht leben können - und katholische Augsburger sind.

So ein Mensch ist auch Brigitte Hahn. 45 Jahre habe sie durchgearbeitet, Vollzeit wohlgemerkt, berichtet sie. Doch nun reicht die Rente trotzdem nicht. »Wir haben früher 50 Mark im Monat verdient«, erklärt die gebürtige Augsburgerin. »Da ist natürlich nicht viel in die Rente eingezahlt worden.« Dabei hatte sie keine schlechten Stellen: »Ich habe einen Abschluss als Großhandelskauffrau gemacht und eine halbe Lehre zur Bankkauffrau. Immer habe ich gute Beschäftigungen gehabt, sogar bei der Deutschen Bank. Aber es würde fast nicht langen, um draußen davon zu leben. Als ich erfahren habe, was für mich an Rente rauskommt, hab ich mich bei der Fuggerei beworben, aber noch fünfeinhalb Jahre warten müssen, bis ich rein durfte.«

Als sie auf der Warteliste an der Reihe war, erhielt sie wie alle anderen, einige wenige Familien ausgenommen, eine Wohnung mit rund 60 Quadratmetern, wobei sie das Mobiliar selbst stellen musste. Die nach außen abgeschlossene Siedlung liegt zentral in Augsburg. Wer die Fuggerei durch das Eingangstor betritt, kommt zunächst an der Verwaltung vorbei und geht dann eine Straße zwischen zwei einstöckigen Gebäuderiegeln entlang, von der dann ein paar Querwege mit weiteren solchen Gebäuderiegeln abgehen. Auch einen Platz mit viel Grün gibt es. Zu den Erdgeschosswohnungen gehört jeweils ein kleiner Garten, im ersten Stock gibt es einen Speicher dazu. Die Jahresmiete beträgt 88 Cent - der Gegenwert eines Rheinischen Guldens, der zu Lebzeiten Jakob Fuggers dem Wochenlohn eines Handwerkers entsprach und seit Gründung der Fuggerei als Miete genommen wird. Der selbe Betrag wird zusätzlich für einen eigenen Fuggerei-Seelsorger fällig.

Doch gar so günstig, wie es scheinen mag, ist es nicht, in der Fuggerei zu leben. Sie habe in strengen Wintern oft über 200 Euro Heizungskosten im Monat, sagt Brigitte Hahn. Und in den Hausnebenkosten von 85 Euro seien Strom, Telefon und Versicherung noch gar nicht drin. Geld ansparen könne sie hier kaum.

Aber die erwähnten letzten fünf Jahre »draußen« war es natürlich schlimmer, da habe sie sich stark eingeschränkt, berichtet Hahn. Für den Umzug, der um die 2000 Euro gekostet hat, habe sie einen Kredit aufgenommen. »Da fällt man in ein tiefes Loch, wenn man ein Leben lang arbeitet, und es kommt unterm Strich so wenig raus«, sagt die Seniorin. »Das wissen mittlerweile sehr viele Rentner. Es ist kein neues Problem. Unser Staat müsste sich da etwas einfallen lassen. So geht es nicht.« Sie kenne ein paar Gleichaltrige »draußen«, die vom Staat Heizungsgeld und Mietzuschuss bekommen. »Es gibt ja einen riesigen Bericht, der gezeigt hat: Augsburg wird immer ärmer. Wir haben viele Rentner, die unterm Minimum leben.«

Neben Brigitte Hahn am Küchentisch sitzt Sabine Darius und stimmt mehrmals zu. Sie arbeitet für die Fuggerschen Stiftungen - neben der für die Fuggerei gibt es noch acht weitere - und ist unter anderem für das kleine Fugger- und Fuggerei-Museum zuständig, das in einem ehemaligen Wohnhaus der Siedlung untergebracht ist. Die Fuggerei sei aktuell wie noch nie, sagt Darius: »Es gibt genügend Leute, die von ihrer Hände Arbeit nicht leben können. Nehmen Sie eine alleinstehende Friseurin oder jemanden, der bei Amazon undsoweiter arbeitet - wie will so jemand seine Familie unterhalten? Das sind zum Beispiel die Leute, die heute in der Fuggerei wohnen.« Das seien dann auch die Leute, die langfristig hier bleiben. Es gebe nämlich auch andere Fälle. Darius gibt ein Beispiel: »Ein Ehepaar trennt sich, er muss Unterhalt für die Kinder zahlen, zieht hier ein, und wenn die Kinder aus dem Unterhaltsalter raus sind, zieht er wieder aus. Dann ist die Fuggerei Hilfe zur Selbsthilfe, wie es geplant war.«

Die Bedürftigkeit werde bei Aufnahme in eine der über 100 Wohnungen geprüft, sagt die Verwalterin - eine Änderung der Vermögensverhältnisse hingegen nicht. »Es wird niemand rausgeschmissen, bloß weil er sagt, er hat ab morgen eine Arbeit, bei der er gut verdient. Aber es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass er dann auszieht«, erklärt Darius. »Ich bin jetzt über 17 Jahre da - früher gab es fast keine Auszüge. Das kam jetzt eher mit den jüngeren Leuten. Zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, die solange hier wohnen bleibt, bis die Kinder raus sind und sie Vollzeit arbeiten kann. Wir wollen den Leuten helfen, schlechte Zeiten zu überbrücken.«

Altersmäßig ist die Einwohnerschaft der Fuggerei gemischt. Das Durchschnittsalter liege bei knapp über 63, sagt Sabine Darius. Dass die Nachbarschaften nicht homogen sind, gefällt Brigitte Hahn: »Es ist ganz toll, Jung und Alt zusammen. Das soll man ja mittlerweile ein bisschen forcieren.« Sie habe mittlerweile gute Bekannte, mit denen sie hin und wieder einen Kaffee trinke. Auch einen Aufenthaltsraum gebe es, wo wöchentlich etwa Spiele gespielt werden könnten. »Und wenn man mal seine Ruhe will, macht man die Tür zu, und alles ist okay.«

Brigitte Hahn bringt sich zudem bei einem der anfallenden Freiwilligendienste ein: Sie sitzt regelmäßig an der Kasse am Fuggerei-Haupteingang, wo seit 2006 Eintritt genommen wird. Die Fuggerei sei »das Tourismusziel Nummer eins in Augsburg«, hält Verwalterin Darius fest. Das Eintrittsgeld mache 20 Prozent der Fuggerei-Einnahmen aus. 70 Prozent kämen aus der Holzwirtschaft im 3200 Hektar großen stiftungseigenen Wald, die restlichen zehn Prozent aus Immobilienbesitz.

Beim Thema Freiwilligendienste kommt aber auch Kritik. »Es gibt einzelne Leute, die sich wahnsinnig viel einbringen - und es gibt mehrere, die sich nicht einbringen«, klagt Sabine Darius. »Heutzutage tue ich doch nix, wenn ich nichts dafür kriege! Für die Allgemeinheit was tun? Nein. Das ist heute einfach so.« Manche Leute kehrten nicht einmal vor ihrer Haustür, fügt Bewohnerin Hahn hinzu.

Das hätte dem Fuggerei-Gründer Jakob - Beiname: »der Reiche« - wohl missfallen. Schließlich wollte er Leuten ein Dach über dem Kopf geben, die auf Englisch so schön »the deserving poor« genannt werden: jene Armen, die Hilfe verdienen. Arbeitsamkeit gehört(e) da dazu. Der den Fugger-Konzern in weltweite Geschäfte (auch in den Sklavenhandel, was das erwähnte Museum ebenso wie die Arbeitssituation in den Fuggerschen Bergwerken verschweigt) führende »Reiche«, der päpstliche Münzen prägte und eine Kaiserwahl finanzierte, wollte kein Armenhaus betreiben. »Die meisten Bewohner der Fuggerei gingen Berufen nach, sie waren Handwerker und Tagelöhner«, ist in einem Film im kleinen Fuggerei-Museum zu lernen.

Überhaupt war die Stiftung der Fuggerei wenige Jahre vor Jakobs Tod nicht so selbstlos, wie es heute scheinen mag. »Die Sorge um das Leben nach dem Tod beherrschte das Denken und Handeln der Menschen«, erklärt der Film. Zudem habe sich Jakob die Kritik Martin Luthers an seinen Zinsgeschäften zu Herzen genommen. »Aus Dankbarkeit gegenüber Gott und für das Seelenheil«, so der Film weiter, »stiftete Jakob Fugger, auch im Namen seiner verstorbenen Brüder Ulrich und Georg, 1521 eine Siedlung für in Not geratene Augsburger Bürger.«

Zu einer Zeit, als offenes asoziales Gewinnstreben noch eine kulturelle Unmöglichkeit war und es im übrigen auch keine progressive Besteuerung oder gar Vermögenssteuer gab, muss die Gründung der Fuggerei als Investition ins Seelenheil angesehen werden, die noch dazu angesichts des Fuggerschen Reichtums nicht einmal kurzfristig weh tat. Und die Investition wurde auf nachhaltige Weise betrieben, so dass auch die (nicht ganz so reichen) Nachkommen des »Reichen« von ihr profitieren: Noch heute sind täglich drei Gebete, davon ein Ave Maria, auf die Familie Fugger Teil der Miete für das Wohnen in der Fuggerei. Überprüft wird das allerdings nicht.

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