Von keinem Zweifel geplagt
Als Erich Honecker vor 20 Jahren starb, war die DDR gescheitert - seiner »positiven Bilanz« tat das keinen Abbruch
Erich Honecker - der Name ist mittlerweile geeignet, jüngere Teilnehmer an Quiz-Runden in Verlegenheit zu bringen. Am Donnerstag ist es genau 20 Jahre her, dass er in Chile seinem Krebsleiden erlag. Vier Jahre lag da gerade das Ende jenes Landes zurück, dessen Staatschef er gewesen war. Wie über die DDR ist auch über Honecker viel geschrieben worden, doch gerade dieses Geschriebene wirkt zu großen Teilen wie eine Empfehlung zu schnellem absichtsvollen Vergessen.
Für das wiedervereinigte Deutschland ist eine differenzierte Bewertung Erich Honeckers wie auch eine gerechte Bewertung der DDR noch auf Jahre hinaus hinderlich, weil potenziell subversiv. Über Honecker kann man daher vor allem als einen minderbemittelten Anführer eines von ihm persönlich eingefärbten Unrechtsstaates lesen, wie etwa die Reaktionen auf seine »Letzten Aufzeichnungen« zeigten, die vor zwei Jahren erschienen. Geschrieben hatte er sie 1992 im Moabiter Gefängnis. Hier, in Berlin-Moabit, hatten ihn auch schon die Nazis eingesperrt, die den damaligen Jungkommunisten und Widerständler 1937 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilten. »Uneinsichtig« oder »unbelehrbar« sind noch die mildesten Bezeichnungen, die sich für seine Aufzeichnungen vor zwei Jahren fanden. »Schöne Illustrationen des Geisteszustandes eines gierigen Greises, der über die Träume von Millionen und die Leichen Tausender ging«, nannte sie der Literaturkritiker Denis Scheck.
Man kann nicht sagen, dass Erich Honecker eine sympathische Gestalt gewesen wäre. Wer ihn erlebte, wenn er eine seiner nuschelnden Reden über den »erfolgreichen Aufbau der entwickelten soozistischen (sozialistischen) Gesellschaft« hielt, kann sich des Fremdschämens erinnern, das einen erfasste. Das zugleich linkische wie gestelzte Auftreten bei Staatsbesuchen wirkte so befremdlich wie Honeckers starrsinniges Ignorieren des Stimmungswandels, der die Menschen in immer größerer Zahl auf Abstand zur DDR gehen ließ und zuletzt scharenweise aus dem Land trieb, sobald sich dazu die Gelegenheit bot. Aber eine Bewertung wie die von Denis Scheck ist abseits aller Realitäten.
Eine Gesellschaft sei immer »auch daran zu messen, wie sie mit ihren Angeklagten umgeht«. Nicht auf die DDR, auf die das natürlich auch anwendbar ist, sondern auf die wiedervereinigte bundesdeutsche Gesellschaft war der vorwurfsvolle Satz gemünzt, den Wolfgang Ziegler, einer der Anwälte Honeckers, formulierte. Honecker stand ab Oktober 1992 wegen Totschlags vor Gericht, Grund waren die Opfer an der deutsch-deutschen Grenze - Menschen, die der DDR den Rücken kehrten und ihr Glück im Westen suchen wollten und denen das tödliche Grenzsicherungssystem zum Verhängnis wurde.
Honecker war im Jahr 1961, als die Mauer errichtet wurde, Sicherheitschef des Zentralkomitees der SED, der Staatspartei in der DDR. Im Prozess bekannte er sich am 3. Dezember 1992 in einer persönlichen Erklärung zur Verantwortung, die er übernommen habe, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern. »Dieses Risiko wollten, konnten und durften wir nicht eingehen«, so Honecker. Die Entscheidung sei allerdings nicht in der DDR, sondern auf einer Sitzung der Staaten des Warschauer Vertrags am 5. August 1961 in Moskau getroffen worden.
Der Prozess musste dem Angeklagten all seine Vorbehalte gegen die kapitalistische Justiz geradezu bestätigen. Der Verlauf der Verhandlungen, denen er zunehmend apathisch und gezeichnet von seiner Erkrankung beiwohnte, gestalteten sich zur Farce. Honeckers Leber-Krebsgeschwulst wurde öffentlich erörtert, bewertet, in Zweifel gezogen. Der Nebenklägeranwalt Hanns Ekkehard Plöger machte den Gerichtssaal zur Theaterbühne, zog einen medizinischen Gutachter heran, der die Diagnose in Frage stellte und Mutmaßungen über einen Fuchsbandwurm anstellte. Honecker habe schließlich gern gejagt und viele Pilze gegessen. Sogar die Identität Honeckers wurde angezweifelt und erkennungsdienstliche Behandlung gefordert, unter Nutzung der Unterlagen aus dem Prozess, den die Nazis 1937 gegen ihn geführt hatten. Am 12. Januar 1993 wurde das Verfahren schließlich wegen des schlechten Gesundheitszustandes des damals 81-Jährigen nach einer Verfassungsbeschwerde seiner Anwälte eingestellt.
In seiner Erklärung hatte Honecker in Anspielung auf Teile der Bürgerrechtsbewegung »Pfarrer aus der DDR« gescholten; diese gäben »ihren Namen für eine neue Inquisition, für eine moderne Hexenjagd«. Ausgerechnet einem Pfarrer verdankten Honecker und seine Frau Margot, einstige Volksbildungsministerin der DDR, allerdings ihren Unterschlupf, als sie Anfang 1990 verfemt und obdachlos waren, nachdem sie die Regierungs-Wohnsiedlung in Berlin-Wandlitz hatten verlassen müssen. Sogar um ihr Leben mussten beide fürchten, auch vor dem Haus ihres Gastegebers, Pfarrer Uwe Holmer, in Lobetal kam es zu Demonstrationen und Gewaltdrohungen. Die damalige DDR-Regierung wagte es nicht, die Honeckers vor dem »Volkszorn« zu schützen.
Honecker selbst waren keine Zweifel an der eigenen wie an der historischen Mission der Arbeiterklasse anzumerken. Der wachsende zeitliche Abstand werde die Bilanz der DDR in anderem Licht erscheinen lassen, sagte er vor Gericht. »Immer mehr ›Ossis‹ werden erkennen, dass die Lebensbedingungen in der DDR sie weniger deformiert haben, als die ›Wessis‹ durch die ›soziale‹ Marktwirtschaft deformiert worden sind.« Kranke, so prophezeite Honecker, »werden erkennen, dass sie in dem Gesundheitswesen der DDR trotz technischer Rückstände Patienten und nicht kommerzielle Objekte für das Marketing von Ärzten waren. Künstler werden begreifen, dass die angebliche oder wirkliche DDR-Zensur nicht so kunstfeindlich war wie die Zensur des Markts. Staatsbürger werden spüren, dass die DDR-Bürokratie plus der Jagd auf knappe Waren nicht so viel Freizeit erforderte, wie die Bürokratie der BRD ... Sie werden erkennen, dass sie im täglichen Leben, insbesondere auf ihrer Arbeitsstelle, in der DDR ein ungleich höheres Maß an Freiheit hatten, als sie es jetzt haben.«
Manchen älteren Zeitgenossen könnten solche Sätze bereits ausreichend ins Grübeln bringen. Jüngeren Zeitgenossen sollte man auch andere Sätze Honeckers nicht verschweigen. Wie jenen: »Deswegen meine ich, dass ich genauso wie meine Genossen, nicht nur keine juristische, sondern auch keine politische und keine moralische Schuld auf mich geladen habe, als ich zur Mauer ja sagte und dabei blieb.« Aber dazu müsste man ihn erst einmal kennen. Am 29. Mai 1994 starb Honecker in Santiago de Chile. Im Unterschied zu seiner Heimat hatte er dort eine große Zahl von Anhängern. Sie hatten noch in Erinnerung, wie Tausende Chilenen auf der Flucht vor einer putschenden Militärjunta in der DDR Asyl fanden.
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