Operation «Würde» in Bengasi
Libyen nach Gaddafi: Der Machtkampf zwischen Islamisten und Säkularen ist noch nicht entschieden
«Es ist traurige Normalität geworden», sagt ein sichtlich erschütterter älterer Herr. Eben noch wollte er an dem belebten Montagmorgen in der Innenstadt von Bengasi Brot kaufen. Nun umringt eine Menschentraube einen Toyota Kombi ein paar Schritte vor ihm. Auf dem Beifahrersitz liegt eine Stapel Zeitungen. «Burniq», eine der angesehensten Blätter in Libyen. Der Chefredakteur Muftah Bu Zeid ist bekannt für seine ebenso liberale wie deutlich ausgesprochen Meinung zum Chaos der letzten Jahre.
Wie am Abend zuvor, als er auf dem Fernsehsender «Libya Ahar» die Willkür der Milizen beklagte und darauf hinwies, dass die überwältigende Mehrheit in Libyen endlich Armee und Polizei auf den Straßen sehen will. Keine zehn Stunden später sitzt Bu Zeid tot auf dem Fahrersitz seines Toyotas, in der Seitenscheibe sind fünf Einschusslöcher zu sehen.er war gerade dabei, frisch gedruckte Exemplare seiner Zeitung an Buchläden auszuliefern. Auf den Schlagzeilen der «Burniq»-Ausgabe, die Bu Zeid in der Hand hält, klebt Blut.
Libysche Armee
Von Muammar al-Gaddafi bewusst schwach gehalten, sind die rund 160 000 Mann keine sehr schlagkräftige militärische Truppe. Die Ausrüstung soll veraltet sein, der Lohn gering. Die NATO versenkte 2011 mehrere Schiffe der Marine, die Luftwaffe hat sich dem rebellischen Ex-General Hafter angeschlossen.
Revolutionärer Operationsraum (LROR)
Die konservativ-religiöse Truppe wurde Anfang 2013 vom Kongress mit der Sicherung von Tripolis beauftragt. LROR ist ein loser Bund von ehemaligen Rebellen, denen Nähe zu Islamisten nachgesagt wird. Die mehrstündige Entführung von Premier Ali Zeidan wurde von LROR-Angehörigen organisiert.
Nationales Sicherheitsdirektorat (NSD)
Die Einheit soll eigentlich polizeiliche Aufgaben im ganzen Land übernehmen. Die NSD-Beamten trauen sich jedoch häufig nicht auf die Straße und sind in Bengasi immer wieder Ziel von Anschlägen
Saiqa
Die Armee-Spezialeinheit bekämpfte vor dem Februar 2011 die islamistische Opposition gegen Gaddafi, wechselte jedoch unter ihrem Kommandeur Abdulfatah Younis die Seite. Younis wurde im Sommer 2011 von Islamisten ermordet, seitdem führt Wanis Bu Chamada die einzige Armee-Einheit in Bengasi gegen die islamistischen Milizen.
Ölwachen
2012 gegründet, soll die dem Ölministerium unterstehende Einheit Häfen und Ölanlagen bewachen. Einer der Kommandeure, Ibrahim Jatran, blockierte im Sommer vorigen Jahres jedoch vier Häfen, um seiner Forderung nach mehr Autonomie für die östliche Cyreneika Nachdruck zu verleihen.
Misrata
Die Union der Misrata-Milizen ist der stärkste Kampfverband in Libyen und verfügt über mehr als 100 Kampfpanzer Die verschiedenen Kommandeure unterstellen der Politik in Tripolis, dass sie weiterhin mehrheitlich für Gaddafis Getreue stehen. Mit der Besetzung von Ministerien erzwangen die Misratis 2012 das Isolationsgesetz, mit dem ehemalige Funktionäre aus den politischen Ämtern verbannt wurden.
Ansar Scharia
Der landesweit größte religiöse Kampfverband ist eine bunte Mischung aus Dschihadisten und Islamisten, die von Washington für die Stürmung des USA-Konsulats in Bengasi verantwortlich gemacht wird. Ansar Scharia versucht mit sozialen Initiativen, ihren schlechten Ruf bei der Bevölkerung aufzubessern.
17. Februar
Obwohl vom Verteidigungsministerium finanziert, bekämpfen die zwölf Bataillone Armee und Polizei, die sie für Anhänger Gaddafis halten.
Raffalah Schati
Splittergruppe mit unklaren politischen Zielen, untersteht dem Verteidigungsministerium. mk
«Niemand hat versucht, den Täter aufzuhalten», berichtet der Herr im Anzug, schockiert über die Tat. «Es dauerte nicht länger als ein paar Sekunden.»
Kaltblütige Morde lähmen das ganze Land
Der politische Mord an dem Chefredakteur ist nicht der erste im «nachrevolutionären» Libyen, immer wieder werden Journalisten und politisch aktive Leute Opfer unbekannter Täter. Doch dieser kaltblütige Mord am helllichten Tag an jemandem, der nur das formuliert, was die Mehrheit der Bürger sowieso denkt, lähmt das ganze Land. Ein spontaner Protestzug vor dem Tibesti-Hotel wirkt wie eine Demonstration der Ohnmacht. «Keiner der 250 Morde der letzten zwei Jahre konnte aufgeklärt werden, flüstert ein junger Demonstrant. Matt hält er ein Schild in die Höhe: »Für Armee und Polizei! Keine Milizen!«
Ohne sie beim Namen zu nennen, meint er die Islamisten von Ansar Scharia, Raffalla Schati und 17. Februar - Milizen die mehrere Stadteile von Bengasi, Libyens zweitgrößter Stadt, kontrollieren. Das Datum 17. Februar, als im Jahre 2011 die Proteste gegen Muammar al-Gaddafi begannen, gilt vielen meist bärtigen Kämpfern immer noch als Rechtfertigung für die Willkür, mit der sie gegen Polizisten und Soldaten vorgehen.
»Dabei sind viele dieser Gruppierungen erst nach der Revolution entstanden«, betont der Lehrer Taufik, der seinen Nachnamen nicht gedruckt sehen möchte. »Zudem haben die Islamisten in den ersten Wochen versucht, die jungen Leute vom Kampf gegen Gaddafi abzuhalten.«
Denn zusammen mit seinem Sohn Saif hatte Gaddafi ab 2007 versucht, mit den stärker werdenden Islamisten einen Ausgleich zu finden. Viele der Kommandeure wie Ismail Salabi und Belhadj wurden aus dem Gefängnis entlassen. Dem bewaffneten Aufstand schlossen sie sich erst an, als sie an den Sieg der Opposition glaubten, sagen die Aktivisten vor dem Tibesti-Hotel. Seit 2007 sind es Koranschulen in Katar und Saudi-Arabien, die mit ihrer wahhabitisch-konservativen Auslegung des Korans die Moscheen in Libyen radikalisieren wollen.
Einige trauern Saif al-Gaddafis Idee vom »neuen Libyen« nach, der das Land langsam öffnen wollte. »Ich trauere nicht Saif hinterher, der war ein Diktator wie sein Vater, aber langsamer Wandel hätte weniger Men- schenleben gekostet«, sagt einer.
»Immer noch im Krieg gegen Gaddafis Getreue«
In einem Café in Sichtweite beobachtet ein junger Mann die Szene. »Wir sind immer noch im Krieg gegen die Gaddafi-Loyalisten, die eine Gegenrevolution planen«, bekräftigt Ahmed Bugaschalla. Er sieht aus wie viele Jugendliche in Bengasi. Viele haben sich Bärte stehen lassen, einige aus Überzeugung, andere zum Schutz.
Ahmed hatte sich gleich zu Beginn der Ansar-Scharia-Miliz angeschlossen. Bis Misrata und Sirte hat ihn der Krieg getrieben, Orte die er zuvor nie gesehen hatte. »Unsere Gegner dort waren für Gaddafi«, rechtfertigt er die Morde an »den schwarzen Söldnern«, zu denen es während der Gefechte kam, wie er offen zugibt.
Ahmed ist 18, ein sanfter Milchbubi und Autofan. Vor drei Jahren lebte er in den Tag hinein wie viele seiner Altersgenossen in Palermo oder Tunis, sagt er. Kein Job, keine Perspektive im Leben. Der Krieg gab ihm eine Gemeinschaft.
»Ich schlafe schlecht«, gibt er zu. Einen Job hat er noch immer nicht. Aber bei Ansar Scharia verdient er über 1000 Libysche Dinar im Monat und muss nur zweimal die Woche zum Dienst erscheinen.
Im Kreis seiner neuen Freunde wird der Koran studiert, es wird gesungen, nach Spiritualität gesucht, nach Sinn im Leben. »Meine Einheit gibt mir Kraft. Ich bin für Libyen und Allah in den Krieg gezogen, dass weiß ich jetzt.« Der Mentor der Gruppe hat lange Zeit in Riad gelebt.
Auf dem verstaubten Fußballplatz trifft sich Ahmed nur noch selten mit alten Schulfreunden. Autos und andere Statussymbole sind ihm unwichtig geworden. Auf dem Spielfeld ist er fast der einzige, der bei Ansar Scharia kämpft. Zweimal die Woche in die Kaserne und keine weiteren Sorgen, sie kümmern sich um alles, auch bei Krankheiten in der Familie, versichert der Mittelstürmer mit den knöchellangen Hosen seinen Freunden.
Es gibt Streit, da einige Ansar Scharia für die Mordwelle in Bengasi verantwortlich machen. »Ich will nicht, dass du mir erzählst, wie ich zu glauben habe«, warnt ihn Mohammed, mit dem er früher die Schulbank drückte. Mohammed arbeitet in einem der neuen Einkaufszentren an der Venedigstraße. Dass dort Mädchen und Jungen zusammen Kaffee trinken, hält Ahmed für unislamisch. Immer wieder werden Cafés und Friseurläden in den letzten Monaten Ziel nächtlicher Bombenanschläge.
»Früher war Ahmed nicht so, er war einer von uns, sein Scheich hat ihm den Kopf verdreht«, wird Mohammed später traurig sagen. Ein anderer Schulfreund kämpft in Syrien bei einer extremistischen Anti-Assad-Truppe. Wie viele in Bengasi fürchtet Mohammed sich vor der Rückkehr der Syrien-Kämpfer.
Eine gute Ausbildung hat kaum einer in der Fußballplatz-Clique. Außer bei Ahmed ist bei allen das Geld knapp, iPhone und bekannte Modemarken sind Ausdruck, zur freien Welt zu gehören. Manchmal klingt Neid durch, wenn sie Ahmed fragen, was denn genau hinter den hohen Mauern bei Ansar trainiert wird.
Ahmed wird wohl in Zukunft nicht mehr kommen. Chalifa Haftar, ein pensionierter Generalmajor, hat in wenigen Wochen eine Allianz gegen die Islamisten geschmiedet. Vor knapp zwei Wochen griffen seine Soldaten deren Stützpunkte in Bengasi an. Bei einem Überraschungsangriff attackierte die libysche Luftwaffe letzte Woche die Munitionslager der Islamisten. Über 70 Tote gab es bei den folgenden Kämpfen, darunter waren ranghohe Dschihadisten aus Algerien und Tunesien. Am Mittwoch kam es zu neuen Luftangriffen. Laut »Al-Wasat« waren auch sie Teil von Haftars Operation »Karama« (Würde).
Ansar Scharia hat sich im sogenannten chinesischen Viertel verbarrikadiert, dort stehen Hunderte Rohbauten. Ein idealer Schutz vor den Spezialeinheiten der Armee, die mit Haftar verbündet sind.
Lehrer Taufik hat aufgegeben
Der Lehrer Taufik hat Bengasi mit seiner Familie in der letzten Woche verlassen. »Für längere Zeit«, sagt er. »Es wird viele Jahre dauern, diese Verbrecher wieder los zu werden.« Als Aktivist hatte er in den letzten Jahren versucht, der Demokratie in Bengasi auf die Beine zu helfen; er hatte eine Partei mitgegründet, war Wahlhelfer, reinigte öffentliche Plätze und gab eine Zeitung heraus.
Taufik ist keine Ausnahme in der Millionenstadt am Mittelmeer. Die Bürger Bengasis glauben immer noch an ihre Stadt. Dreimal haben sie die Milizen aus der Stadt geworfen, jedes Mal starben Demonstranten durch Schüsse der Milizen. »Viele sind Extremisten aus anderen Städten und Ländern, sie können dorthin nicht mehr zurück. Jetzt kämpfen sie in Bengasi für die Scharia und ihre Zukunft«, sagt Taufik. Da die Regierung sie bezahlt, gebe ich auf, stellt er trocken fest. Sie kommen von Westen her nach Tripolis.
Ernste Warnung an Frauen ohne Kopftuch
Auf Facebook warnt eine Studentin aus dem Nobel-Stadtteil Hail Andalous ihre Freundinnen, künftig im Tripolitaner Bezirk Faradj vorsichtig zu sein. Tags zuvor hätte ein Islamistenkommando ihre Cousine mit dem Auto abgedrängt und zum Anhalten gezwungen. Sie hätten ihr gesagt, kein Kopftuch zu tragen wäre ein Verbrechen gegen den Islam. Als allerletzte Warnung hätte man ihr die Haare abrasiert.
»Ich kann mir vorstellen dass es genauso passiert ist«, sagt Aya, eine junge Architektin. Im Café Casa treffen sich die jungen Leute aus der unter Gaddafi reich gewordenen Mittelschicht. »Und selbst wenn es nur ein Gerücht ist, entspricht es genau den Ängsten, die wir jungen Frauen zur Zeit haben.«
Bis jetzt ist Tripolis vom Kampf der Liberalen gegen Islamisten verschont geblieben. Das wird sich mit der Operation »Würde« von Haftar ändern. »Wir müssen Libyen von den Extremisten und deren Terror befreien«, sagte Haftar nach dem Mord an »Burniq«-Chefredakteur Bu Zeid.
Es werde ein langer Kampf werden, hatte Bu Zeid vorausgesagt. »Wir müssen den jungen Männern Perspektiven geben, um ihn zu gewinnen.«
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