Sieben wie beim Goldschürfen

Beim Geschäft mit dem Export von Fußballern fallen die meisten Talente durch

Brasilien ist in der Weltwirtschaft für seine Rolle als Rohstofflieferant bekannt: Zuckerrohr, Soja, Kautschuk und vieles mehr. Brasilien ist aber auch die Nummer eins beim Export von Profifußballern: Rund 5000 Spieler stehen außerhalb des Landes unter Vertrag. Seit 1993 hat der Export von Fußballern rund zwei Milliarden Euro eingebracht. Am Exportgeschäft verdienen zuvorderst Spielerberater und Vereinsbosse, während viele Jugendliche schon in Brasilien durchs Sieb fallen und stranden. Brasiliens ehemaliger Nationaltrainer Carlos Dunga beklagte schon 2009 die Situation: »Jeder sagt, dass Spielerhandel wie Prostitution ist, aber alle ziehen ihren Nutzen daraus.«

Wechselt er vor der WM in Brasilien nach Europa oder danach? Diese Frage bewegte Brasiliens Fußballfans über mehrere Jahre. Schließlich jagte das Who is Who der europäischen Topvereine den Hoffnungsträger der Seleção schlechthin: Neymar vom Pelé-Club FC Santos. Bereits für die WM 2010 in Südafrika wurde die Berufung des damals 18-jährigen Ausnahmetalents von zahlreichen Experten und Fans im Land des fünfmaligen Weltmeisters gefordert - erfolglos. Der nüchterne Nationaltrainer Dunga ließ sich von den Wünschen der Romantiker nicht erweichen. Lukrative Angebote gab es für den Stürmerstar aber auch ohne WM-Teilnahme, zum Beispiel vom FC Chelsea London. Doch die Santos-Vereinsbosse konnten Neymar mit einer Aufstockung seiner Bezüge plus Sponsorenverträgen zum Bleiben überreden.

Die Zeiten, in denen Brasiliens Vereine auf Teufel komm raus alle ihre Talente verkaufen mussten, um die Löcher in den Vereinskassen zu stopfen, scheinen vorerst vorbei. Brasilien gehört zu den prosperierenden Schwellenländern der vergangenen Jahre, und ein Teil des Geldes aus dem Wirtschaftsaufschwung fließt auch in den heimischen Fußball, sodass zumindest alternde Stars wie Ronaldinho, Deco, Roberto Carlos oder Luís Fabiano wieder mit üppigen Gagen in die heimische Liga zurückgelockt werden konnten.

Für die Talente gilt freilich nach wie vor Europa als der Königsweg zur Entwicklung der eigenen Karriere: für die Masse aus primär finanziellen Gründen, denn Durchschnittsspieler verdienen in Brasilien nach wie vor äußerst bescheiden, 90 Prozent der rund 23 000 Vertragsfußballer nur rund 300 Euro im Monat. Für die jungen Toptalente sind es nicht zuletzt sportliche Gründe, die zum Sprung über den Teich motivieren. So trat Neymar im Sommer 2013 das sportliche Wagnis Europa doch noch vor der WM an, ermuntert von Nationaltrainer Felipe Scolari, der sich vom stärker auf Taktik, Kraft und Disziplin setzenden europäischen Fußball einen weiteren Entwicklungssprung seines Musterschülers erhoffte.

Neymar landete schließlich beim FC Barcelona, wo er dem argentinischen Weltstar Lionel Messi assistieren und ihn entlasten soll. Aber: Sein Transfer beschäftigt inzwischen die Gerichte. Offiziell wechselte er für »nur« 57,1 Millionen Euro, davon gingen 40 Millionen an ein Unternehmen der Neymar-Familie, diverse nicht im Transfer deklarierte Nebenverträge beliefen sich auf über 38 Millionen Euro.

Neymar, inzwischen 22-jährig, ist das Idol unzähliger Brasilianer und Brasilianerinnen und Vorbild für die Millionen jungen Fußballer im Land, die von der großen Karriere träumen. Rund 1000 Spieler wechseln Jahr für Jahr nach Europa, nicht nur in die großen Ligen, sondern auch nach Osteuropa, China oder gar auf die Färöer-Inseln. »Made in Brazil« steht im Fußball für Qualitätsware ersten Ranges. Dabei wird die Produktion von Fußballstars immer stärker professionalisiert: »Zuerst säen wir, dann ernten wir, und schließlich verkaufen wir unser Produkt auf dem Markt. Direkt auf den Tisch des Verbrauchers. Unser Hauptabsatzmarkt ist Europa.« So beschreibt der ehemalige Profifußballer Roberto Carlos die Strategie seiner Fußballschule CR Promoções. Dort stehen über 80 Kinder aus ganz Brasilien unter Vertrag, alle stammen aus armen oder ärmsten Verhältnissen.

3000 Euro pro Kind und Jahr gibt Robertos Schule für Ernährung, Training, Unterkunft, Gesundheit und Erziehung aus. Alles wird auf die Karte Sport gesetzt - und die schulische Ausbildung vernachlässigt. Der Kapitän der legendären, in Schönheit gestorbenen 82er-Seleção, Sócrates, kritisierte einst in einem »Spiegel«-Interview diese Entwicklung: »Wir ziehen so Generationen von Ausgeschlossenen heran, denn von den Millionen fußballfixierten Jungen schafft nur ein Bruchteil den Aufstieg zum Star. Alle anderen sind - ohne Ausbildung - zum Elend verdammt.«

Der Shootingstar unter den Fußballschulen hat den Anspruch, Bildung und Fußballausbildung zu kombinieren: die Academia Traffic de Futebol, Brasiliens modernste Fußballlehrstätte. Ein riesiges Gelände von 180 000 Quadratmetern mit insgesamt sieben Spielfeldern, Fitnesszentrum und Schwimmbad, abgeschieden gelegen in Porto Feliz, 120 Kilometer in nordwestlicher Richtung von São Paulo entfernt. Die Akademie, die der Werbeagentur Traffic Sports Marketing gehört, hat sogar einen eigenen Fußballverein, der im Ligabetrieb mitmischt: Desportivo Brasil. Dort spielen die 11- bis 18-jährigen »Juwelen« und erhalten so Spielpraxis und Wettkampfhärte. Die Zielsetzung der Investoren: aus Rohdiamanten Edelsteine zu schleifen, die auf dem internationalen Markt mit Höchstgewinn verkauft werden sollen. Die Investition ist nicht billig: Auf knapp 25 000 Dollar pro Jahr beziffert Rodolfo Canavesi, seines Zeichens Vizepräsident von Desportivo Brasil, die jährlichen Kosten pro Spieler, die die Akademie trägt. Doch die Schützlinge müssen mit Leistung zurückzahlen. Wer nicht mithält, wird eher früher als später aussortiert: »Was zählt, ist die Entwicklung und der Verkauf von Individuen. Wenn ich pro Jahrgang fünf bis sechs Spieler verkaufen kann, mache ich Profit«, so Canavesi gegenüber der deutschen Sport-Website SPOX. Das Programm für die Eleven hat es in sich. Der Tag beginnt um sieben Uhr morgens mit dem von einem Ernährungsberater zusammengestellten Frühstück. Dann ein 90-minütiges Vormittagstraining - immer unter den Augen von international erfahrenen Übungsleitern. Nachmittags folgen Englischkurse oder Sitzungen mit einer Psychologin.

Danach wieder Training auf dem Platz. »Sie mögen gute Spieler sein, aber sie müssen auch fürs Leben geschult werden«, sagt Canavesi, der behauptet, alle Jungen in gewisser Weise als seine »Söhne« zu sehen. »Wir hier maximieren die Chancen dieser Jungs, einmal Profistatus zu erreichen«, sagt Canavesi. »Wir haben die beste Infrastruktur, solche Bedingungen können manche Clubs nicht mal ihren Profis bieten.« Gut 100 Schüler umfasst die Kapazität der Akademie. Über das ganze Land sind Scouts verteilt - eine Voraussetzung dafür, dass im Club nur Spieler landen, die durch einen späteren Verkauf ein möglichst lukratives Geschäft versprechen. Aber auch in Argentinien, Paraguay, Uruguay oder Chile wird gesichtet. Das Konzept scheint zu fruchten. Jochen Lösch, ein Deutsch-Uruguayer, der seit 2007 für die Auslandstransfers bei Traffic zuständig ist, beziffert die Zahl der Jugendlichen, die es von Desportivo Brasil zum Profi schaffen, auf 70 bis 80 Prozent. »Bei Traditionsclubs wie Corinthians São Paulo sind es ein bis zwei Prozent.«

Auch wenn die brasilianische Liga finanziell wieder mehr zu bieten hat als in den 1990er Jahren, ist der große Traum für viele dennoch Europa. Und um den Sprung dahin zu erleichtern, ist Traffic Sports Marketing 2010 beim damaligen portugiesischen Zweitligisten GD Estoril Praia eingestiegen und bestimmt dort mit 74 Prozent der Anteile das Geschäft. Inzwischen ist Estoril Praia Erstligist, hat einen brasilianischen Trainer, jede Menge brasilianische Spieler.

Estoril Praia ist eine so genannte Abspielplattform für die jungen Talente, die dort erste europäische Erfahrungen sammeln. Schon aus sprachlichen Gründen fällt den Spielern in Portugal die Akklimatisierung leichter. Der 1. FC Köln verpflichtete im Januar 2013 Innenverteidiger Bruno Nascimento und ist nun wohl an Mittelfeldspieler Evandro interessiert. Klappt der Transfer, kassiert auch Traffic Sports mit, die Transferrechte an dem Spielmacher hält. An jedem Spieler verkauft die Firma nur 50 Prozent der Rechte, bei jedem Transfer klingelt also die Kasse. Neben dem direkten Einstieg bei GD Estoril Praia unterhält Traffic Sports über Desportivo Brasil eine Kooperationsbeziehung zu Manchester United. Auf einige der Talente besitzt Manchester bereits eine Option, sobald sie die Volljährigkeit erreicht haben.

So professionell, wie die Spielertransfers von Brasilien nach Europa von Traffic Sports abgewickelt werden, läuft es allerdings nicht immer ab. 2006 berichtete der »Spiegel« über den brasilianischen Stürmer Douglas Rodrigues, der von dem dubiosen Agenten Wilson Bellissi nach Europa gelockt wurde. 3000 Euro Monatsgehalt hatte man ihm versprochen. Er und fünf weitere Jungen sollten in Rumänien spielen. Für dieses Versprechen verkaufte Rodrigues’ Vater sein Auto und buchte seinem Sohn ein Flugticket. Am Flughafen war dann plötzlich alles anders: Nicht Rumänien, sondern die Republik Moldau sollte es werden. Als aber der Kontaktmann in Chisinau nicht erschien, ging es für die Jungen weiter nach Frankfurt - der FSV Mainz 05 sei plötzlich interessiert. Fünf Tage ließ man die immer noch hoffnungsfrohen Talente auf dem Flughafen warten, bevor man ihnen sagte, dass nun auch Mainz das Interesse verloren habe, man versuche es jetzt aber bei Eintracht Frankfurt. Auch daraus wurde nichts. Sie hatten kein Geld für den Rückflug, und zu allem Übel funktionierte nicht einmal das Handy. »Ein Albtraum«, erinnert sich Douglas dos Santos. »Ich war total verzweifelt.« Erst nach drei Wochen kehrte Douglas nach São Paulo zurück, seine Mitstreiter blieben sogar noch sechs Wochen länger.

Doch dass solche Erfahrungen an der Sehnsucht brasilianischer Jugendlicher nach der Profifußballkarriere etwas ändern werden, ist unwahrscheinlich: 90 Prozent sollen davon träumen. Der normale Weg geht weit weniger über luxuriöse Fußballakademien à la Traffic, sondern über die sogenannte peneira, ein knallhartes Ausleseverfahren, bei dem Talente gesichtet und ausgesiebt werden. Die »Guten« kommen ins Töpfchen und landen bei einem der großen Clubs, die »Schlechten« müssen auf die nächste Gelegenheit warten. Cafú, dreifacher WM-Endspielteilnehmer und zweifacher Weltmeister, musste 14 solcher peneiras überstehen, ehe er einen Vertrag bekam.

Hunderte Jungen aus dem ganzen Land reisen zu diesen Tests an. Ob in den Akademien oder den peneiras: Auf den Jungen lastet ein immenser, fast übermenschlicher Druck. Die meisten kommen aus bitterarmen Familien, für die ihre Söhne oft die einzige Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs darstellen.

Und die, die es wie Neymar schaffen, bringen wiederum eine ganze Generation brasilianischer Kinder zum Träumen. Wobei Neymars Werdegang untypisch ist: Er spielte schon als Elfjähriger beim FC Santos und wurde von den verschiedenen Trainern beim Club als »Juwel« betrachtet. Der harte Weg der Auslese durch die peneiras blieb ihm so erspart. Eine Ausnahme, die sich auch, aber nicht nur durch sein Ausnahmetalent erklärt.

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