Das Mantra der Alten
Für Titelverteidiger Spanien kann die WM nach dem Spiel gegen Chile schon vorbei sein
Einen ganzen Packen voller Handzettel hatte der beleibte Brasilianer mitgebracht, der sich an die mit Schlaglöchern übersäte Zufahrtsstraße gestellt hat. Die »Churrascaria Gaucho«, ein Fleischrestaurant im Stadtteil Pinheirinho von Curitiba, könnte den Zulauf hungriger Journalisten gut gebrauchen, doch das Interesse hält sich bei den spanischen Berichterstattern gerade in Grenzen. Reicht ja, wenn ein Bus in die wenig einladende Gegend weit draußen vom Stadtzentrum fährt, aber dort speist man eher nicht, wenn man nicht muss. Die medialen Begleiter des Titelverteidigers sind es zwar von vergangenen Turnieren gewohnt, dass ihr Verband keinen Hotspot als Herberge bucht, aber wo das »CT do Caju« genannte Trainingszentrum des Erstligisten Atlético Paranaense gelegen ist, könnten böse Zungen sogar Sehnsucht nach einer frühen Abreise ableiten.
Touristen werden in die Peripherie der einst preisgekrönten Umwelthauptstadt eher nicht geführt, und das hat in den Ausläufern von Industrievierteln wie Bairro Novo seinen guten Grund: Herumstreunende Hunde und beschmierte Fassaden lassen die Lust auf einen Spaziergang schnell vergehen. Und das Amüsement scheint sich darauf zu beschränken, in einer baufälligen Pizzeria noch ein Bier zu schlürfen. Lebemann Lothar Matthäus hielt es hier bei seinem Intermezzo vor acht Jahren nur wenige Wochen und er hinterließ nach der raschen Flucht aus Curitiba Telefonrechnungen von über 10 000 Reais, umgerechnet mehr als 3000 Euro, die sein Arbeitgeber genüsslich via Internet verbreitete.
Das spanische Team hat bislang kein schlechtes Wort über das Camp fallen lassen, vielleicht weil man die Umgebung bislang nur durch die Scheiben des Mannschaftsbusses erkundet hat. Und für das Wichtigste einer Fußballmannschaft ist ja gesorgt: Im bewachten Bereich erstrecken sich auf insgesamt 220 000 Quadratmetern acht Rasenplätze mitsamt Hotelkomplex, den jene Kicker bewohnen, die bereits am Montagnachmittag nach Rio de Janeiro flogen. Denn dort steigt heute für den Weltmeister gegen Chile (16 Uhr Ortszeit) das wegweisende zweite Gruppenspiel. Schmuckloser Abschied oder spektakuläre Wiederauferstehung? Nur mit einem Sieg umgeht eine gekrönte Generation sicher das Aus in der Vorrunde.
Am Tag vor dem Trip an den Zuckerhut hockten Pedro und Juan Mata im »Media Center Espanha«, einem von drei gewaltigen Dieselgeneratoren betriebenen Zeltbau, dessen Umgebung so angelegt ist, dass niemand einen Blick auf den Trainingsplatz werfen kann. Und Militärpolizei passt auf, dass keiner durch das notdürftig mit Karabinerhaken gesicherte Fangnetz schlüpft. Der Ernst der Lage ist allerorten erkannt. Immer wieder fielen nun bei den Medienterminen die Schlüsselwörter: »Finale« und »Maracana«. Typisch das von Mata gerne wiederholte Mantra: »Es ist ein Finale, und wir müssen gewinnen.« Bei den Worten klang Zuversicht durch.
Das eigentliche Endspiel findet zwar erst am 13. Juli statt, aber schon mal den Ernstfall zu simulieren, kann nicht schaden. Nur muss es gerade dieser unbequeme Widerpart aus Südamerika sein, der mit dem beim FC Barcelona angestellten Alexis Sanchez jederzeit zum Spaßverderber taugt, fragen sich die Skeptiker. Klubkollege Pedro hat darauf so geantwortet: »Alexis ist der Fixstern der Chilenen, aber wir werden nicht noch einmal scheitern.« Als sicher gilt, dass der selbstbewusste Flügelspieler für David Silva auflaufen wird. Und vielleicht rauscht Stürmer Diego Costa für die Startelf auch durchs Rüttelsieb.
Aber mehr Revolution kündigt sich beim zumindest in Personalfragen arg konservativen Nationaltrainer Vincente del Bosque (»Wir haben die Reife, um zu bestehen«) nicht an. Von fundamentalen Änderungen mag niemand etwas wissen. Verbandschef Ángel María Villar stärkte dem Schnauzbartträger demonstrativ den Rücken. Und hat die Mannschaft nicht vor vier Jahren in Südafrika ähnliches durchgemacht? Nach der Anfangspleite in Durban gegen die Schweiz nahmen die Iberer hernach alle auf die Hörner. Im entscheidenden Gruppenspiel übrigens Chile mit 2:1, um sich dann ohne Gegentor bis zum Titel durchzukombinieren.
Die Erinnerung an die Meriten der Vergangenheit hält das Mediencenter mit seiner Wandbestückung wach - bloß warum sind die Fotos schwarz-weiß gehalten, während das aktuelle Mannschaftsbild farbig strahlt? Es sind doch fast alles dieselben Spieler. Noch werden die drängenden Fragen nach einem Generationswechsel eifrig verdrängt. »Wahnsinn«, rufen Haudegen wie Sergio Ramos, seien derlei Debatten. Gemeinsam soll der Gegenschlag gelingen. Deshalb hat bereits am Sonntag im spanischen Quartier ein Barbecue stattgefunden. Der spanische Verband verbreitete selbst die Bilder via Twitter, auf denen Fernando Torres und Kollegen sich brasilianische Fleischspeisen schmecken ließen. Die Bestellung soll an ein Lokal aus der direkten Umgebung gegangen sein, die »Churrascaria Gaucha« war es aber nicht.
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