Verlassen. Verprügelt. Verloren.
Margaret Thatcher ließ sich den Klassenkrieg gegen die streikenden Bergarbeiter dreimal so viel kosten wie den Falklandkrieg
»Orgreave. South Yorkshire. England... Jede Menge Kumpel dort.« In seinem großen Roman »GB84« über den einjährigen britischen Bergarbeiterstreik der Jahre 1984 und 1985 dokumentiert David Peace den dramatischen Tagebucheintrag eines Kumpels vom 18. Juni 1984. »Eingeschlagene Köpfe, Gebrochene Rippen. Gebrochene Beine. Blut - Kumpel verhaftet. Verprügelt. Verloren«, heißt es darin.
Seit März 1984 streikten die Bergarbeiter unter Führung ihrer »National Union of Mineworkers« (NUM). In Orgreave, nur wenige Kilometer südöstlich von ihrer Zentrale im englischen Sheffield, waren die »flying pickets«, die mobilen Streikposten, bereits einige Wochen zuvor daran gescheitert, die riesige Kokerei, die die Stahlwerke der Umgebung versorgte, zu blockieren und den Streik so auf andere Wirtschaftssektoren auszudehnen.
Großbritannien ist das Mutterland des Trade-Unionismus - hier erfuhren Gewerkschaften allerdings auch eine ihrer schwersten Niederlagen. Nach Antritt der Regierung Thatcher 1979 wurden Bastionen geschleift: etwa das Prinzip, das den Gewerkschaften bei der Einstellung nicht-organisierter Beschäftigter ein Vetorecht einräumte; auch wurden Streikposten verboten, die nicht im bestreikten Betrieb arbeiten.
Die Bergarbeitergewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) hatte 1979 noch rund 253 000 Mitglieder - bis 2000 sank die Zahl auf unter 5000. Lag die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder insgesamt Anfang der 1980er Jahre noch bei rund 13 Millionen, sind es heute noch etwa sechs Millionen.
Die Zahl der im Dachverband TUC versammelten Gewerkschaften sank von rund 400 auf heute etwa 50 - unter anderem durch Fusionen. Die größte Einzelgewerkschaft heute ist Unite (1,9 Millionen Mitglieder), die Beschäftigte aus Sektoren der Privatwirtschaft organisiert. Die zweitgrößte organisiert Kollegen aus dem öffentlichen Sektor: Unison (1,3 Millionen). nd
An jenem 18. Juni 1984 mobilisierte die NUM an die 10 000 ihrer Mitglieder erneut dorthin. Zu ihrer Überraschung sahen sie sich mehr als 6000 Polizisten der neu gebildeten »Riot Squad Police«-Einheiten gegenüber - die mit bis dahin nie gesehener Brutalität auf die bei Sommerwetter in T-Shirts und Turnschuhen gekommenen Streikenden losgingen: Fast 100 Festnahmen - die letzten Prozesse endeten erst 1987 mit Freisprüchen -, über 50 Schwerstverletzte, die von den Polizeipferden, die immer wieder in die Streikpostenketten hineingetrieben wurden, überrannt worden waren. Tausende zusammengeschlagene und desillusionierte Bergarbeiter blieben zurück.
Dabei hatte nach dem Willen der NUM die Aktion in Orgreave eigentlich zu dem werden sollen, was Saltley bei Birmingham 1972 gewesen war: ein Sieg über die den britischen Klassenkompromiss fundamental in Frage stellende Regierung.
Damals hatte die Gewerkschaft die Strategie der »flying pickets« entwickelt und die Stahl- und Transportarbeiter der Region zur gemeinsamen Blockade des Kohlendepots von Saltley bringen können. Nach Jahren des Lohnstopps konnten so Lohnerhöhungen im seit 1947 verstaatlichten Kohlebergbau durchgesetzt werden: um 27 Prozent. Ein enormes lohnpolitisches Fanal, von dem auch die Beschäftigten anderer Branchen profitierten.
Wie bedeutsam dieser Sieg in Saltley war, konnte man auch zwei Jahre später im Wahlkampf sehen. Die Regierung des Konservativen Edward Heath ging 1974 mit der Alternative »Wer regiert das Land - die Gewerkschaften oder das Parlament?« ins Rennen - und Heath verlor.
Zehn Jahre später, erwiesen sich die inzwischen wieder an die Macht gekommenen Tories jedoch als besser gerüstet. Beispielsweise war eine hoch bezahlte Bürgerkriegspolizei gebildet worden, die seit 1981 durch das National Reporting Centre auch national koordiniert und - wie später in einem Untersuchungsausschuss zutage gefördert wurde - zusätzlich von unter Ex-Soldaten, Hooligans und Faschisten der National Front angeworbenen »inoffiziellen« Schlägertrupps unterstützt wurde.
Wie langfristig der Staat sich auf die Auseinandersetzungen mit den Streikenden vorbereitet hatte, spiegelten auch die Sätze eines Polizeioffiziers wieder. Der sagte dem im Mai 1984 festgenommenen Präsidenten der Gewerkschaft NUM, Arthur Scargill, in Orgreave ins Gesicht: »Ihr Jungs habt keine Chance. Wir haben vier Jahre für Euch trainiert und schon zwei Jahre auf Euch gewartet.«
Vor allem aber politisch hatte sich die Thatcher-Regierung auf die Entscheidungsschlacht gegen die Bergarbeiter, die seit dem Generalstreik von 1926 stets die Speerspitze aller sozialen Auseinandersetzungen dargestellt hatten, langfristig vorbereitet. Bereits in der Opposition hatte die erste Frau an der Spitze der Konservativen Pläne zur Umsetzung ihres Programms zur Revitalisierung des ökonomisch schwächelnden Vereinigten Königreiches nach neoliberalem Muster erarbeiten lassen. Motto: »freier Markt, starker Staat, eiserne Zeiten«. Der »Lösung des Gewerkschaftsproblems« sollte dabei die zentrale Aufmerksamkeit gelten, wie der Vordenker des Thatcherismus und spätere Industrieminister, Keith Joseph, seine Denkschrift über die künftige Regierungspraxis betitelt hatte.
Präzisiert wurde das weitere Vorgehen 1978 schließlich von Josephs späterem Staatssekretär Nicholas Ridley. In dessen Plan, der durch Indiskretionen noch im selben Jahr vom »Economist« veröffentlicht worden war, wurde empfohlen, Sektor für Sektor von Gewerkschaften, Tarifbindung und Mitbestimmung freizukämpfen, Streikbrecher frühzeitig anzuwerben, die Polizei aufzurüsten und Streikende künftig von Sozialleistungen auszuschließen, um den finanziellen Druck auf diese zu erhöhen.
Als »wahrscheinlichstes Schlachtfeld« für die zentralen Auseinandersetzungen machte Ridley den Bergbau aus. Er empfahl, die Kohlereserven langfristig aufzustocken, Importabkommen für Kohle abzuschließen, gegen eventuelle Solidaritätsstreiks der Eisenbahner gewerkschaftlich unorganisierte Lkw-Fahrer anzustellen und frühzeitig die britischen Kraftwerke so umzurüsten, dass sie notfalls auch auf den Betrieb mit Erdöl umgestellt werden könnten.
An die Regierung gekommen, begannen die Konservativen umgehend mit der Umsetzung ihrer Vorhaben. Im Herbst 1979 mussten trotz regionaler Solidaritätsstreiks der NUM die Stahlarbeiter gemessen an der Inflationsrate von über 20 Prozent Lohneinbußen und die Streichung von etwa 150 000 Arbeitsplätzen hinnehmen. Vor allem aber waren die Sozialleistungen in großem Maßstab eingeschränkt worden. 1981 kündigte das National Coal Board, die staatliche Bergbauaufsicht, der die Bergwerke unterstanden, auch noch die Schließung von 23 Gruben an.
Noch aber war die Regierung nicht in der Lage, den sofort ausgerufenen landesweiten Streik der NUM in den Griff zu bekommen - sie musste erst einmal zurückrudern. Doch auf juristischer Basis schuf sie mit dem Employment Act bereits eine weitere Grundlage ihres späteren Sieges.
Die Liste der antigewerkschaftlichen Maßnahmen war lang: ein Verbot gewerkschaftlicher Organisierung im Öffentlichen Dienst und von Solidaritätsstreiks, die Begrenzung auf sechs Streikposten pro Betrieb, die Verpflichtung der Gewerkschaften zum Schadenersatz an bestreikte Unternehmen sowie die Absage an das Prinzip des Closed-shop, also das Vetorecht der Betriebsräte bei der Einstellung nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeiter. All dies kam dann tatsächlich zum Einsatz und erleichterte der konservativen Regierung unter Margaret Thatcher und dem späteren Chef der Bergbaubehörde ihren historischen Sieg über die NUM.
Nach dem gewonnen Falklandkrieg und im Klima eines aufgeheizten Nationalismus war es 1984 so weit. Thatcher blies zum Sturm auf den »inneren Feind«, wie sie, sekundiert von allen Massenmedien, die Gewerkschaft NUM nunmehr bezeichnete. Die Kohlehalden, die zu Beginn dieses Jahres bereits 38 Millionen Tonnen gelagert hatten, wurden in wenigen Wochen auf 57 Millionen Tonnen aufgestockt. Verträge mit den USA, Australien, der Bundesrepublik und sogar der Volksrepublik Polen sorgten dafür, dass im Falle eines Streiks größere Kontingente von Kohle nach Großbritannien geliefert werden würden.
Am 1. März verkündete McGregor die Schließung von 25 »unrentablen Minen« und damit die Streichung von insgesamt 25 000 Arbeitsplätzen. In einem weiteren Schritt sollten sogar 45 000 Jobs dem Rotstift zum Opfer fallen, auch sollte es im Kohlebereich wieder Privatisierungen geben und langfristig alle Subventionen zugunsten der Förderung des Nordseeöls und der Weiterentwicklung der Atomenergie abgeschafft werden.
Diesmal gelang es der NUM nicht, einen landesweiten Streik dagegen zu organisieren. In Nottinghamshire, dem nach Yorkshire zweitgrößten Bezirk der Gewerkschaft, verweigerten sich die dort traditionell konservativeren Bergarbeiter. Gelockt durch die bereits unter der Labour-Regierung eingeführten Prämiensysteme in den produktiveren Minen und befriedet durch eine Garantie, dass die Minen in Nottinghamshire von den Schließungen nicht betroffen sein würden, brachen die Kollegen mehrheitlich das ungeschriebene Gesetz: im Streikfalle niemals die Streiklinie zu übertreten. Auch längerfristige Unterstützungsstreiks der anderen Gewerkschaften des Dachverbandes TUC blieben diesmal aus - abgesehen von Aktionen der Liverpooler Hafenarbeiter und zeitweise der Eisenbahner. Und auch die Labour Party unter Neil Kinnock, der im Herbst 1984 sogar die »Gewalt der Streikposten« aggressiv denunzieren sollte, verwehrte den 170 000 Streikenden demonstrativ die Solidarität.
Und dennoch sollte es noch ein Jahr dauern bis »der längste, härteste und wahrscheinlich bitterste Streik, den die Welt gesehen hat« - wie NUM-Präsident Scargill im Frühsommer 1985 resümierte - gebrochen werden konnte. Die Opferbereitschaft der zuhauf in den Ruin getriebenen Miners ist bis heute legendär: ihre Dörfer befanden sich in einem ständigen Belagerungszustand, 200 Bergarbeiter wurden zu Haftstrafen verurteilt, 3000 verletzt. Zwei Streikposten, David Jones und Joe Green, hatte die Polizei sogar getötet. Legendär ist auch die große Solidarität von Hunderttausenden Unterstützern, die Geld sammelten, Posten standen und Konzerte, Veranstaltungen und Demonstrationen überall in Großbritannien organisierten.
Letztlich aber waren die Gewerkschaft und ihre Unterstützer einer Staatsmacht nicht gewachsen, die sich laut Berechnungen des ehemaligen Labour-Energieministers Tony die Niederwerfung der NUM etwa acht Millionen Pfund hat kosten lassen - fast dreimal so viel, wie der Falklandkrieg verschlungen hatte. Den Nutzen aus dieser Spaltung zogen - wie stets - letztlich nur die Herrschenden.
»Jetzt machen wir sie alle fertig«, erklärte MacGregor vom National Coal Board nur wenige Tage nach der Niederwerfung des Streiks im März 1985. Die Niederlage der NUM machte tatsächlich endgültig den Weg für den »Thatcherismus« frei. Wie von den Konservativen geplant, wurden die industriellen Sektoren und ihre Gewerkschaften nach und nach abgeräumt, der Arbeitsmarkt fast vollständig dereguliert und weite Teile der Bevölkerung ins Elend gestürzt.
Den 39 inhaftierten »Flying Pickets« der »Schlacht von Orgreave« wurden 1991 immerhin Entschädigungen in Höhe von 425 000 Pfund zugesprochen. Das Vorgehen der Polizei damals war damit delegitimiert. Da hatte Thatcher ihren Klassenkrieg allerdings längst gewonnen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.