Nicht nur Tauben fliegen lassen

Der Protest von Indigenen bei der WM-Eröffnung geht verspätet um die Welt

  • Britta Kollenbroich und Sebastian Erb, Krukutu
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Fernsehen war von der Protestaktion des indigenen Jungen während der Eröffnungsfeier der Weltmeisterschaft nichts zu sehen. Dennoch geht Werás Botschaft nun um die Welt.

In seinem Dorf ist Werá jetzt ein kleiner Held. Immerhin hat er bei der Eröffnungsfeier der Fußball-WM in São Paulo die FIFA ausgetrickst. Werá Jeguaka Mirim ist ein hochgewachsener Junge mit einem schmalen Gesicht. Er trägt den Federschmuck, den er auch im Stadion auf dem Kopf hatte. So richtig scheint er es nicht zu fassen, dass nun seinetwegen Besucher in sein entlegenes Dorf reisen. Schüchtern antwortet er auf Fragen. »Vorher hatte ich Angst, aber jetzt bin ich glücklich«, sagt der 13-Jährige.

Werá spricht zwar auch etwas Portugiesisch, wechselt aber schnell in seine Muttersprache Guaraní, die Sprache des größten indigenen Volkes Brasiliens. Seine Familie lebt im Dorf Krukutu zwischen Bananenstauden und Orangenbäumen. Es liegt zwei Autostunden südlich von São Paulo. Das Leben im Dschungel ist ganz anders als in der hektischen Millionenmetropole. Die Luft ist rein, der Himmel klar. Statt Wolkenkratzern stehen hier einfache Holzhäuser.

Vor einer Woche ließ Werá gemeinsam mit zwei anderen Kindern kurz vor Anpfiff weiße Tauben in die Luft steigen. Die WM-Organisatoren wollten damit die Vielfalt des Landes zeigen. Die drei Kinder sollten das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Brasilien repräsentieren. Das war Werá nicht genug. Im Dorf hatten sie abgesprochen, dass er die Gelegenheit zum Protest nutzen solle. Das Banner versteckte er in seiner Hose, zog es hervor und spannte es auf. »Demarcação já« stand darauf, schwarz auf rotem Grund. Das lässt sich mit »Grenzziehung jetzt« übersetzen und verweist auf die Forderung der Indigenen nach mehr Land. Zunächst bekam davon kaum jemand etwas mit. Auf den Fernsehbildern, die die FIFA kontrolliert, war die Szene nicht zu sehen. Noch bevor er den Rasen verließ, nahmen ihm Sicherheitsleute das Transparent ab.

Trotz seines jungen Alters ist Werá der Protestgrund schon völlig klar. »Unser Land ist sehr klein, es reicht nicht zum Leben, weil wir nicht genügend anpflanzen können«, sagt er und klingt dabei sehr erwachsen. 1987 wurden den Bewohnern von Krukutu 25 Hektar Land zugesprochen. Damals lebten rund 25 Familien hier, mittlerweile sind es 50.

Die Indigenen fordern nicht nur mehr Landrechte. Sie protestieren auch gegen eine geplante Verfassungsänderung, nach der die Zuständigkeit für die Grenzziehung von der Regierung auf das Parlament übergehen soll. Die Dorfbewohner fürchten, dass die Agrarlobby dann ihre Interessen durchsetzt und die Ureinwohner weiter ins Abseits geraten.

Die Einladung zur Eröffnungsfeier kam den Menschen in Krukutu wie gerufen. Sie wollten das Fenster zur Weltöffentlichkeit für ihr Anliegen nutzen. Neben den Landrechte wollten sie auch auf den allgemeinen Rassismus gegenüber Indigenen aufmerksam machen, sagt Dorfvorsteher Fabio Jekupé: »Wenn wir in die Stadt fahren, nennen sie uns ›dreckige Indios‹ und ›Ungeziefer‹.« Fabio ist 30 Jahre alt, auch er trägt einen Kopfschmuck aus blauen Federn, sein Gesicht hat er für die tägliche Gebetszeremonie rot und schwarz bemalt. Für ihn sind die Guaraní Brasilianer wie alle anderen auch. »Wir leben nur ein anderes Leben: Wir haben unsere eigene Kultur, die möchten wir niemals aufgeben.«

Auch Werás Vater liegt viel daran, das Erbe seines Volkes weiterzugeben. Er schreibt Kinderbücher, die auf Portugiesisch und Guaraní erscheinen, und hält Vorträge an Schulen. Während sein Sohn im Stadion protestierte, saß er daheim vor dem Fernseher und ahnte nichts. »Sie haben mir und meiner Frau nichts erzählt, damit wir uns keine Sorgen machen«, erzählt der hagere Mann. »Die Reaktion der Zuschauer war ja nicht absehbar: Was wäre gewesen, wenn die 60 000 Menschen meinen Sohn ausgebuht hätten?«

Im Nachhinein sah Olivio im Internet ein Foto von der Aktion seines Sohnes und verbreitete es auf seiner Facebook-Seite. Erst dann wurden die Medien auf den Protest aufmerksam. Seitdem klingelt ständig das Telefon. Aus der ganzen Welt rufen Journalisten an. Allen erzählt Olivio, wie stolz er auf seinen Sohn sei: »Werá hat unsere Botschaft in die ganze Welt verbreitet.« Auch wenn sie nicht in die heile Fußballwelt der FIFA passen wollte. dpa

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