Keine Konzerne im Osten
«Atlas der Industrialisierung» zeigt Chancen und Probleme der neuen Bundesländer auf / Ostbeauftragte Iris Gleicke (SPD) kritisiert Fehler der Treuhandpolitik
Die Industrie in Ostdeutschland hinkt weiterhin der in den alten Bundesländern stark hinterher. Während der Industrieanteil an der Wirtschaftsleistung in der gesamten Bundesrepublik bei rund 23 Prozent liegt, erreicht er in den neuen Bundesländern derzeit lediglich 16 Prozent. Dies geht aus dem «Atlas der Industrialisierung der Neuen Bundesländer» hervor, der am Dienstag im Bundeswirtschaftsministerium vorgestellt wurde.
«Wir brauchen eine auf Ostdeutschland ausgerichtete Industriepolitik», erklärte die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder, Iris Gleicke (SPD), bei der Vorstellung des Atlasses. Zwar konnte der Osten seit dem Jahr 1995 mit einem industriellen Wachstum von fünf Prozent pro Jahr den Abstand zum Westen verkleinern. «Doch die historischen Umbrüche durch Krieg, Demontage, Planwirtschaft und in Teilen verfehlter Treuhandpolitik sind bis in die Gegenwart sichtbar», so Gleicke.
Besonders der Privatisierung ehemals volkseigener Betriebe stellte die aus Thüringen stammende Staatssekretärin Gleicke ein schlechtes Zeugnis aus. So sei die Treuhandpolitik nach der Wiedervereinigung «hoch umstritten» gewesen. «Das hat uns Chancen, die wir in Ostdeutschland gehabt hätten, beraubt», konstatiert Gleicke. So sei es nicht möglich gewesen, industrielle Kerne zu erhalten. Zum Teil sei es bei den Privatisierungen darum gegangen, «Märkte zu bereinigen und den eigenen Kontrahenten quasi aus den Markt zu nehmen», erklärte sie. Wie der Industrieatlas konstatiert, war Massenarbeitslosigkeit die Folge dieser Politik. Die neuen Bundesländer erbrachten Ende 1992 nur noch 3,5 Prozent der deutschen Industrieproduktion.
Das wohl größte Problem des Industriestandortes Ostdeutschland ist, dass hier keine großen Konzernzentralen angesiedelt sind. Lediglich sieben der 160 im Aktienindex DAX an der Frankfurter Börse gelisteten Aktienunternehmen haben ihren Firmensitz in den neuen Bundesländern - fünf davon in Berlin und zwei in Jena. Und das hat weitreichende Folgen: Dadurch gebe es in Ostdeutschland eine «deutlich geringere Innovationskraft», so Gleicke. Schließlich haben die großen Konzerne dadurch ihre Forschungsabteilungen meist auch im Westen der Bundesrepublik. Und dies schlägt sich laut der Studie wiederum in der Arbeitsproduktivität nieder, die niedriger als in den alten Bundesländern ist.
Doch gibt es mittlerweile auch einige wenige Hoffnungsträger in den neuen Bundesländern. Diese befinden sich vor allem in den traditionellen Industrieländern Sachsen und Thüringen. Besonders die Branche der Erneuerbaren galt dabei lange Zeit als Hoffnungsträger. So liegt der Anteil der Arbeitnehmer in der Erneuerbaren-Branche im Osten der Republik bei 1,8 Prozent der Gesamtbeschäftigten, während es im Westen lediglich 1,2 Prozent sind.
Zwar findet es der Ost-Koordinator der Linksfraktion im Bundestag, Roland Claus, «lobenswert, dass Gleicke endlich mal Tacheles über die Ost-Industriepolitik reden will. Doch stört den Politiker die Tatenlosigkeit der Bundesregierung: »Die Menschen warten schon seit 25 Jahren auf gleichwertige Lebensverhältnisse«. Aber solange die Deutsche Einheit bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) keine Chefsache sei, bleibe der Ostbeauftragten wohl nur das Debattieren, so Claus. Der aktuelle Bundeshaushalt jedenfalls spiegle Gleickes Bemühungen nicht wieder, »da die Investitionsquote weiter sinkt und der Osten erneut hinten runter fällt«.
In den Augen des LINKE-Politikers ist der »Aufbau Ost als Nachbau West« schon längst gescheitert. »Wegen seiner kleinteiligen Unternehmensstruktur wird der Osten nie die westdeutschen Exportquoten im Bereich der Hochtechnologie erreichen können«, lautet sein Fazit.
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