Die Franzosen sind streikmüde
Robert Schmidt über die sozialen Kämpfe im Nachbarland
In Montpellier lassen streikende Techniker ein Tanzfestival ausfallen, in Lyon wird die Oper besetzt, weil Bahnmitarbeiter im Arbeitskampf sind, fallen frankreichweit seit Wochen viele Züge aus. Man hat das Gefühl, dass bei unserem westlichen Nachbarn ständig und an allen Ecken und Enden gestreikt wird. Laut Experten aber nimmt diese Protestform kontinuierlich ab.
»Seit zehn Jahren können wir einen Rückgang von konfrontativen Gewerkschaftsaktionen beobachten«, erklärt Bernhard Vivier gegenüber »nd«. Vivier ist Direktor der Forschungszentrums der Arbeit (IST). Für ihn sei der Streik zwar weiterhin ein charakteristisches Merkmal der Auseinandersetzung im Streit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, werde in Frankreich aber wegen nachlassendem Erfolg weniger eingesetzt. Laut jüngsten Umfragen sprachen sich drei von vier Franzosen gegen den jüngsten Bahnstreik aus. Radikale Streikaktionen sollten daher letztes Mittel bleiben, neue Gewerkschaftsmitglieder lassen sich damit wohl kaum gewinnen. Insbesondere das Beispiel der Gewerkschaft CGT zeigt auch, dass Dauerstreik nicht immer zu den gewünschten Resultaten führt.
Trotz der massiven Arbeitskampfaktionen auf der Schiene und in den Kulturbetrieben wurden bisher weder an der Bahnreform noch an den Einschnitten bei Sonderrechten für Kulturschaffenden gerüttelt. 30 Millionen Euro soll der Streik die SNCF bisher laut Arbeitgebergewerkschaft Medef bereits gekostet haben - pro Tag. Mehr als fünf volle Streiktage standen am Ende auf der Rechnung der SNCF. Erst die Intervention von gemäßigteren Gewerkschaften wie der FO und Sud-Rail konnte die CGT zum Streikstopp bewegen. Und so kommt es, dass sich selbst die sozialistische Tageszeitung »L’Humanité« fragt, ob sich die CGT nicht zunehmend radikalisiere.
Dominique Andolfatto, Politikprofessor an der Uni in Bourgogne und Autor zahlreicher Standardwerke zur Gewerkschaftsgeschichte, sieht aber keine generelle Radikalisierung der Gewerkschaften. Für ihn seien die Aktionen der CGT »sehr speziell« und nicht auf das ganze Land übertragbar. Schließlich repräsentierten diese nur einige hunderttausend französische Arbeiter. Die anderen Gewerkschaften seien dagegen am Konsens interessiert und agierten weniger provokativ.
Tatsächlich liefern blockierte Züge, brennende Autoreifen und besetzte Häuser vor allem gute Bilder für die Fernsehnachrichten. Sie alleine lösen keinen Konflikt. Fakt ist, dass Gewerkschaften in Frankreich mittlerweile nur noch sieben Prozent der Arbeitnehmer repräsentieren und somit alle Gewerkschaften - sowohl die konfliktsuchenden als auch die kompromissbereiten - die Nachwuchsgewinnung verschlafen haben. Selbst wenn krasse Aktionen hin und wieder Wirkung zeigen, darf das nicht gegen den Willen der Arbeitnehmer geschehen.
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