Irrfahrt einer Tapete und andere Geschichten
Im Welterbehaus Wismar sind 700 Jahre Historie ablesbar - am bevorstehenden Tag der Architektur steht der Bau selbst im Vordergrund
Eine bedeutende Tapete liest aus ihrem Tagebuch: »Oktober 1828. Voilá! Ich habe die lange Reise heil überstanden. Und ich dachte schon, man will mich heraufschaffen bis zum Nordpol, so weit ist dieses Wismar, weg von meinen Ursprüngen. Ich bin eine ›Dufour und Leroy‹, ein Pariser Kind (...) Für meine Geburt wurden über 2000 Druckstöcke geschnitten und 87 Farben angemischt.«
Der Wismarer Bürgermeister Gabriel Christoph Lembke (1738 bis 1799) hat dieses Kunstwerk, eine Drucktapete, einst in Auftrag gegeben. Nachzuhören ist die 7-minütige Geschichte im so genannten Tapetensaal des Wismarer Welterbehauses, das seit dem 1. Juni geöffnet ist. Am kommenden Sonntag laden die Architekten zum Tag der Architektur in die Lübsche Straße 23.
Durch »Hörkelche« erfährt der Besucher, warum eine französische Panorama-Tapete in die Hansestadt kam und was sie in den 200 Jahren an der Wand des Hauses erlebte. Nur noch ganz vereinzelt finden sich sonst noch Fragmente des gleichen Tapeten-Zyklusses, zum Beispiel im Museum of Modern Art in New York. Der gesamte Raum, 64 Quadratmeter Wandfläche, ist mit dem kunstvollen Papierdruck bedeckt.
Die Tapete stellt eine Geschichte aus der griechischen Mythologie dar: die Reise des Telemach, Sohn des Odysseus, auf die Insel der Göttin Calypso. Homer hatte einst beschrieben, wie die »schöngelockte Calypso den schiffbrüchigen Odysseus liebt und sieben Jahre bei sich festhält«.
Die Reisen des Odysseus glichen bekanntlich Irrfahren. Und Phasen erbitterter Kämpfe um das nackte Überleben wechselten sich mit Ruhepausen ab - doch er fand den Weg zurück. So erging es auch der Tapete, die die Zeit des großen Handels erlebte, als sie im Sitzungssaal der rauchenden Kaufleute hing. Sie hörte die Liebeserklärung eines Ratsherren an die Tochter eines bankrotten Tischlermeisters. Zu DDR-Zeiten erlebte die Kunstvolle - im Gebäude war seinerzeit der Kulturbund zu Hause - Philatelisten, Münzsammler, Chöre. 1995 dann das Ende, als Diebe die Tapete mit Cuttermessern zerschnitten. Gefunden wurde das Diebesgut später auf einem Wismarer Parkplatz, durchnässt und beschädigt.
Nur noch eine Hand voll Tapetenrestauratoren gibt es in Deutschland: »Finden Sie mal Fachleute, die dieses Handwerk noch beherrschen«, sagt Henning Sigge. Er arbeitet für das Architekturbüro Gaudl Architekten aus Dessau und Berlin, das mit der Sanierung und dem Umbau des Hauses betraut war. Der Brandenburger Jens Zimmermann bekam den Auftrag. Mehr als zwei Jahre hatte er zu tun. Denn nicht nur die Beschädigungen waren eine große Herausforderung für den Tapetenrestauratoren: Durch das Einlagern auf Rolle war die Tapete außerdem um zehn Zentimeter geschrumpft.
Als Experte hatte Zimmermann Referenzen: Er reparierte bereits eine gemalte Tapete in Stralsund. Weil die Tapete so riesige Ausmaße hatte und aufgespannt werden musste, mietete sich Zimmermann im Kloster-Stift zum Heiligengrabe ein. Nun hängt die sonnenverwöhnte Französin in einem klimatisierten Raum, bei 18 Grad und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit. »Das soll garantieren, dass die Tapete so wenig wie möglich verschleißt.«
Im Welterbe-Haus Wismar seien 700 Jahre Geschichte ablesbar, sagt Henning Sigge. »Das Haus ist das erste Ausstellungsstück.« Die Denkmalpfleger und Architekten fanden viele Details, die Geschichten erzählen. Sie sind nun Teil der Ausstellung: bemalte Deckenbalken, Teile einer Brandwand, selbst die Betonstützwand des Hauses, die Anfang der 1990er das einsturzgefährdete Haus hielt, ist als Bauzeugnis sichtbar gemacht. Gefördert wurde die Sanierung durch das »Investitionsprogramm nationale UNESCO-Welterbestätten«, 3,6 Millionen Euro kostete der dreijährige Umbau.
Die Ausstellung zeigt nicht nur die Welterbestätten, sondern auch die Bedeutung Wismars als Welterbe - unter anderem den unveränderten mittelalterlichen Stadtgrundriss oder den Reichtum zu Zeiten der Hanse. Viele interaktive Ausstellungstische erläutern dies und vieles andere mehr äußerst bildhaft.
Der Eintritt ist kostenfrei. Der Besucher erhält am Eingang trotzdem eine Eintrittskarte, an den Ausstellungstischen kann er sie lochen. Die Lochung weist auf der Rückseite auf andere Denkmäler hin: die nachgebaute Poeler Kogge »Wissemara«, das Schabbelhaus, heute Stadthistorisches Museum, das Zeughaus, heute Stadtbibliothek, die Marienkirche und die Stadtmauer.
»Welterbehaus« Wismar, Lübsche Straße 23, Führungen am kommenden Sonntag um 11 Uhr und 13 Uhr mit gaudl Architekten, Öffnungszeiten: Montag bis Sonnabend 10 bis 18 Uhr, Sonntag 10 bis 16 Uhr
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