Post-Karzai-Ära
Nach Präsidentschaftswahlen findet Karzai neue Verehrer in Afghanistan
»Diese Straße war lange kaputt. Mittlerweile ist sie sehr gut befahrbar. So gut wie eine in Europa!«, sagt Taxifahrer Salim. Während der Fahrt schimpft er gerne. Außerdem fährt er wild. Sogar zu wild für afghanische Verhältnisse. Man meint schon fast, in einer Achterbahn zu sitzen. Dann bremst er wieder ruckartig, während ihm Passanten auf der Straße den Vogel zeigen.
Die Straße, von der Salim spricht, führt von Kabul nach Paghman. Er hat Recht: Die Straße ist tatsächlich tadellos. »Karzai hat uns vorangebracht, ich merke das tagtäglich«, beteuert Salim weiter. Umso weniger versteht er, warum einige Afghanen über ihren Staatschef schimpfen. »Jene, die über ihn lästern, werden es schon bald bereuen«, ist sich der junge Mann aus Kabul sicher.
So abstrus dieser Gedanke klingen mag, so vorherrschend ist er zur Zeit in Afghanistan. Während die beiden Präsidentschaftskandidaten auf das Endergebnis warten und sich gegenseitig mit Vorwürfen überhäufen, blicken viele Menschen nostalgisch in die Vergangenheit. Dabei fällt der Blick vor allem auf Afghanistans scheidenden Präsidenten Hamid Karzai.
Es ist vor allem das einfache Volk, welches nicht weiß, was nun – nach Karzai – auf es zukommen wird. Aus diesem Grund zieht man es vor, immer mehr auf die »Errungenschaften« der Karzai-Regierung aufmerksam zu machen. Je nach Berufszweig gibt es eine andere Ansicht.
Während Salim, der Taxifahrer, die neuen Straßen toll findet, feiert Abdullah, der im Kabuler Diplomatenviertel Wazir Akbar Khan ein Internet-Café besitzt, das afghanische 3G-Internet. »Ohne Probleme kann man hier twittern oder seine Facebook-Nachrichten am Handy überprüfen. Außerdem gibt es noch W-Lan. Vor einigen Jahren wäre das unvorstellbar gewesen«, meint der euphorische Jungunternehmer. »Es gibt hier Leute, die sich via Facebook über Karzai aufregen, während sie Zuhause am Laptop sitzen und permanent online sein können. Paradox, denn ohne ihn hätten sie wohl gar keine Internetverbindung« stellt Abdullah fest.
Kurz vor seinem Abtreten wird Hamid Karzai noch Ruhm zuteil. Er wird als Modernisierer betrachtet. Auch seine politischen Fähigkeiten finden plötzlich Beachtung. Daran sind jene Männer, die ihn beerben sollen, allerdings nicht ganz unschuldig. Während Karzai sich in den zwölf Jahren seiner Amtszeit immer als kritikfähiger Staatsmann, der sich stets diplomatisch ausdrücken konnte, präsentiert hat, haben die zwei übrig gebliebenen Präsidentschaftskandidaten unlängst schon bewiesen, dass sie über genau diese Eigenschaften nicht vertrügen. Wegen kritischer Fragen wurden Journalisten nicht selten angepöbelt oder mundtot gemacht, während ihre eigenen rhetorischen Fähigkeiten zu wünschen übrig ließen.
Abgesehen davon brachte es Hamid Karzai immer wieder zustande, alle Konfliktparteien – egal ob ehemalige Taliban-Kämpfer, Kommunisten oder Kriegsfürsten der Nordallianz - an einen Tisch zu bringen. Diese Ansätze drohen nun wieder im Sande zu verlaufen.
Aufgrund dieser Tatsache ziehen viele Afghanen – vor allem in Großstädten wie Kabul – einen stabilen Status quo dem Blick in eine ungewisse Zukunft vor. Dabei werden all die Fehler, welche die Karzai-Regierung begangen hat, oft und gerne übersehen. Denn seit der Mann mit der Karakul-Mütze am Machthebel sitzt, sind vor allem Korruption sowie der Opiumanbau im Land gestiegen.
Dass Personen aus Karzais unmittelbarem Umfeld – allen voran seine eigenen Brüder – tief ins Drogengeschäft verwickelt waren und immer noch sind, ist mittlerweile nicht nur ein offenes Geheimnis. Unter Hamid Karzai, der in der Vergangenheit oftmals aufgrund seiner begrenzten macht als »Bürgermeister von Kabul« regelrecht verspottet wurde, haben sowohl der afghanische Staat als auch die meisten seiner Institutionen – auch und vor allem in Bezug auf Frauen- und Menschenrechte - völlig versagt.
Die Frage ist jedoch, ob selbiges nicht ohnehin eingetreten wäre, egal wer in den Arg, den Präsidentenpalast in Kabul, einzogen wäre. »Korrupt ist hier sowieso jeder. Letztendlich kommt es jedoch darauf an, ob sich auch für die einfachen Menschen etwas ändert«, meint Zaman, der als Obstverkäufer sein Brot verdient. »Hier in Kabul herrscht wenigstens ein gewisses Maß an Frieden und Sicherheit. Alle haben Angst, dass dies nach Karzai nicht mehr der Fall sein wird«, hebt der alte Mann mit dem Rauschebart hervor.
Die Befürchtung vieler Menschen ist nicht unberechtigt. Das hat allerdings weniger mit Extremisten wie den Taliban zu tun, als vielmehr mit jenen Parteien, die Karzai ablösen sollen. Unter höchster Spannung erwartet man in Kabul immer noch das Endergebnis der Stichwahl, die Anfang Juni stattfand. In den letzten Tagen und Wochen wurden die Betrugsvorwürfe immer lauter. Beide Lager werfen sich die wildesten Sachen an den Kopf. Da sowohl Ghani als auch Abdullah blutige Kriegsfürsten um sich geschart haben, besteht stets die Gefahr, dass verfeindete Milizen plötzlich aufeinander losgehen. Auch mitten in Kabul. Von dieser Lage profitieren vor allem die Taliban. Da die Gruppierung beide Kandidaten ablehnt, wäre es für sie nur wünschenswert, wenn sich deren Anhänger wortwörtlich gegenseitig die Köpfe einschlagen.
Währenddessen prägen nicht nur verstaubte Wahlplakate die Straßen Kabuls, sondern auch Gesichter aus vergangener Zeit. Beliebt sind vor allem der einstige Präsident Afghanistans, Mohammad Najibullah Ahmadzai, sowie der frühere Führer der Nordallianz, Ahmad Schah Massoud. Beide wurden ermordet und werden von verschiedenen Bevölkerungsgruppen bis heute als Helden gefeiert. Auch ihre Fehler und ihre Verbrechen werden gerne vergessen. Stattdessen hat man das Gefühl, dass ihre Antlitze allgegenwärtig zu sein scheinen, vor allem an Autos und Hauswänden. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob auch ein dritter Mann das Zeug dazu hat, in diese fragwürdige Heldenrunde aufgenommen zu werden. In Hamid Karzais Heimatstadt Kandahar lässt sich jetzt schon keine Ecke finden, in der man nicht vom Mann mit der Karakul-Mütze edelmütig angestarrt wird.
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