Geordnetes Gewusel rund um die Mickey-Mouse-Bar
Die neuen Europaabgeordneten vieler Kleinparteien haben sich im Brüsseler Parlamentsdschungel eingelebt
Mittlerweile haben die neuen Europaabgeordneten zumindest einen Teil ihres künftigen Arbeitsortes durchschaut: Sie kennen in Brüssel die Mickey-Mouse-Bar, benannt nach ihren bunten, Disney-Maus-ohrenförmigen Stühlen, das Abgeordnetenrestaurant, die Reisekostenstelle und vielleicht waren auch manche von ihnen schon im Plenarsaal. Mit den weiten Gängen des EU-Parlaments, den Sitzecken, Fahrstühlen und Rolltreppen sind sie schon jetzt vertrauter als ihnen lieb ist. Sie ersetzten ihnen in diesen Tagen vor der konstituierenden Sitzung das Büro - denn das gibt es erst zum 1. Juli, dem offiziellen ersten Arbeitstag des neuen Parlaments.
Für fast die Hälfte der 751 Abgeordneten ist die kommende Legislaturperiode ihr »erstes Mal«. Manche vertreten noch dazu eine neue Partei. Bernd Kölmel zum Beispiel. Er ist beides: neu in Brüssel und Straßburg als Vertreter der Alternative für Deutschland (AfD), die gleich sieben Abgeordnete ins EU-Parlament entsendet. Jetzt sitzt er in der Mickey-Mouse-Bar und spricht über seine ersten Eindrücke aus einem der Zentren der europäischen Macht.
»Am Anfang kam mir das alles vor wie ein riesiger Ameisenhaufen«, sagt der 55-jährige Baden-Württemberger über das weitläufige Gebäude am Espace Léopold (flämisch: Leopoldruimte). »Alles wuselt auf den endlosen Gängen durcheinander. Aber wenn man eine Weile stehen bleibt, dann erkennt man geordnete Bahnen. Jeder hat ein Ziel.« Der AfDler, der dabei ist, seinen Lebensmittelpunkt von Baden-Württemberg nach Brüssel zu verlegen, hat das Ziel, die Europapolitik zu verändern.
»Wir sind nicht gegen die EU, wie uns oft vorgeworfen wird, sondern wir wollen eine andere EU«, erklärt Kölmel, »eine, die weniger überflüssige Gesetze erlässt und sich mehr auf die wirklichen Probleme konzentriert: die Folgen der Wirtschaftskrise zum Beispiel und die enorme Verschuldung mancher Länder«. Dass nicht alle Parteimitglieder der AfD diesem Tenor folgen, weiß Kölmel. Er gibt sich aber zuversichtlich, dass die noch junge Partei sich nach den »Anfangsquerelen« bald finden wird.
Seit die AfD in die Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) aufgenommen wurde, ist die EKR-Fraktion, zu der auch die britischen Tories gehören, mit 70 Abgeordneten die drittstärkste Kraft im EU-Parlament. Die Liberalen wurden von ihr auf den vierten Rang verwiesen. Die EU-Skeptiker dieser Fraktion sowie jener der mit leicht veränderten Namen auftretenden Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) werden versuchen, sich nun noch mehr Gehör zu verschaffen.
Neu sind in der EU-Volksvertretung aber nicht nur viele Abgeordnete und Parteien, sondern auch die Kategorie themenspezifische Partei. Die von Soraya Post zum Beispiel, einer Feministin und Romni aus Schweden. Ihre Partei Feministische Initiative setzt sich für die Rechte der Frauen und Minderheiten ein. Mehr als fünf Prozent der Schweden gaben ihr ihre Stimme. Dann ist da Arne Gericke, der für die deutsche Familien-Partei das Thema Familie auf die Agenda der europäischen Politik bringen will. Für die Rechte der Tiere erhebt Stefan Eck von der Tierschutzpartei künftig seine Stimme in Brüssel und Straßburg.
Ob es den Einzelkämpfern gelingt, Gehör zu finden, hängt auch davon ab, ob sie Mitglied einer Fraktion sind. Dann haben sie besondere Rechte. Diese Hürde haben Bernd Kölmel und seine Kollegen von der AfD genommen. Für ihn steht jetzt an, jeden seiner 69 Fraktionskollegen persönlich kennenzulernen. Bei der Gelegenheit kann er gleich sein Englisch üben, einer der weiteren wichtigen Punkte auf seiner langen To-do-Liste. Ohne Fremdsprachenkenntnisse lässt sich nur schwer EU-Politik betreiben. Wer mit den Kollegen der 28 Mitgliedsländer ins Gespräch kommen will, muss mindestens Englisch sprechen. Denn auch wenn im Plenum, in den Ausschüssen und auch bei sonstigen Veranstaltungen fast immer in alle 24 Amtssprachen gedolmetscht wird, finden harte Verhandlungen oft ohne Mittelspersonen statt - besonders, wenn die sogenannten Triloge, Gespräche mit dem Rat und der Kommission, anstehen.
Bei all den unterschiedlichen politischen Orientierungen, die im EU-Parlament zu finden sind, herrscht doch zu einem Thema Konsens: Die Volksvertretung will neben dem Rat und der Kommission als gleichberechtigtes Organ im Gesetzgebungsprozess wahrgenommen werden und die künftige Richtung der EU entscheidend mitprägen.
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