Hans-Ulrich Wehler ist tot
Einflussreicher Historiker und politisch streitbarer Kopf: der Gründer der Bielefelder Schule ist mit 82 Jahren gestorben
Berlin. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler, einer der einflussreichsten Vertreter seiner Zunft in der Bundesrepublik, ist am Samstag im Alter von 82 Jahren in Bielefeld gestorben, wie jetzt Wehlers Freund und Historiker-Kollege Jürgen Kocka bestätigte. Der in Freudenberg bei Siegen geborene Wehler war auch außerhalb der Forschungswelt bekannt und mischte sich immer wieder in politische Debatten ein. Und das durchaus kontrovers: In Westdeutschland machte er sich mit seiner Position im »Historiker-Streit« von 1986 einen Namen, wo er Jürgen Habermas in seiner Kritik an der von Ernst Nolte und anderen vertretenen These unterstützte, der Holocaust sei eine Reaktion des NS-Regimes auf den Völkermord an den Armeniern und die Gulags in der Sowjetunion.
Wehler kommentierte auch aktuelle politische Vorgänge, verlangte etwa mehr Einsatz bei der Integration von Einwanderern, sorgte aber zugleich mit der Formulierung von einem »Türken-Problem« für Aufsehen. In der Diskussion über die umstrittenen Thesen von Thilo Sarrazin kritisierte er die biologistische Argumentation des früheren SPD-Politikers, nahm aber zugleich auf dessen Seite in der öffentlichen Debatte Stellung. Wehler kritisierte die großen Einkommensunterschiede in der Bundesrepublik und war sich als Historiker nicht zu schade, öffentlich einen Mindestlohn zu verlangen - aber er war kein Linker. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er »Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland«, ein Buch, dass von dem Impuls getrieben war, das enorme Auseinanderklaffen von Arm und Reich nicht als unveränderbar hinzunehmen. Er versuche, sagte er einmal in einem Interview, eine »Diskussion zu unterstützen«, wie die Ungleichheit überwunden werde könne. Angesprochen auf die Millionen sozial Abgehängten sagte Wähler, diese ließen sich »schwer zum Protest radikalisieren«, das sei aber »auch gut, dass es keine Radikalisierung gibt«.
Gegenüber der Linken und der DDR blieb Wehler stets sehr skeptisch. Er halte nicht von der neu gegründeten Partei, sagte er einmal, »die sind die Erben Honeckers, die noch einige Zeit eine Regionalpartei in den neuen Bundesländern bleiben. Aber mit ihren Vorstellungen werden sie sich nicht durchsetzen.« Den real existierenden Sozialismus nannte er in seinem fünften Band der »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« eine »sowjetische Satrapie« und »Sultanismus«. Die als »gnadenlos« bezeichnete Abrechnung Wehlers mit der Geschichte der DDR, die dem Bielefelder als Fußnote der Weltgeschichte erschein, wurde von Kritikern bisweilen als arrogant, verkürzt und unwissenschaftlich zurückgewiesen. »Ist aus dem einst emanzipatorisch-kritischen Aufklärer nun also ein Konservativer geworden?«, fragte der Historikerkollege Norbert Frei einmal. »Was ist mit vier Jahrzehnten gesellschaftlicher Existenz, was mit den Erfahrungen von siebzehn Millionen Deutschen, von denen sicherlich die meisten, aber keineswegs alle (und schon gar nicht über alle Zeit) das Unglück empfanden, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs zu leben?«
Wehler gilt als einer der Väter der »Historischen Sozialwissenschaft«. Die auch Bielefelder Schule genannte Richtung wandte sich gegen die hauptsächliche Konzentration der Geschichtsbetrachtung auf politische Ereignisse und betont stattdessen die Bedeutung sozialstruktureller Phänomene. Er gründete seine Arbeiten auch auf Methoden der Soziologe und Psychologie; ebenfalls in der Bielefelder Schule verankert entstand ein als »Gesellschaftsgeschichte« bezeichnetes das Programm einer historischen Sozialwissenschaft, welche die Geschichte von Gesamtgesellschaften wieder in den blick rücken wollte, nachdem sich die Historiografie jahrzehntelang immer weiter in Spezialbereiche wie etwa die Wirtschaftsgeschichte und die Politikgeschichte aufgespalten hatte.
Von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1996 lehrte Wehler in Bielefeld. Dort baute er in den frühen 1970ern die Geschichtsfakultät an der neugegründeten Universität mit auf. Er hatte außerdem Gastprofessuren an den US-Universitäten Harvard, Princeton und Stanford inne. Als sein Opus Magnus gilt die die fünfbändige »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« über die Zeit von 1700 bis 1991. Ein anderer Klassiker ist zudem seine 1973 erschienene Analyse des Deutschen Kaiserreichs, die auch auf Italienisch, Japanisch, Englisch, Schwedisch und Koreanisch herauskam. tos/mit Agenturen
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!